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Die Gaste, Ausgabe 10 / Januar-Februar 2010
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Gülcan im Glück
Gülcan’ýn Þansý
Prof. Dr. Hans-Peter Schmidtke
Pädagogik und Sonderpädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Wenn
jemand etwas anhand eines Falles klar machen möchte, so ist zumindest für den
Schreiber klar, dass es sich um einen Sachverhalt oder eine Person handelt, deren
Geschichte sich zu erzählen lohnt. Irgendwo muss etwas Besonderes oder etwas
Spannendes verborgen sein. Bei einer Falldarstellung ist aber von vornherein völlig
klar, dass die Aussagen so, wie sie geschrieben sind, nur für diesen konkreten
Fall passen. Sie dürfen nicht verallgemeinert werden, weil alle Bedingungen einzig
sind. Und dennoch sollte in einer solchen Geschichte soviel Interessantes
stecken, dass dem Leser vielleicht dadurch neue Erkenntnisse, neue
Verhaltensmöglichkeiten, Nachdenkliches oder Erfreuliches und Teilhabe an einem
fremden Schicksal ermöglicht werden.
In
meinen Ausführungen möchte ich Gülçan vorstellen, ein deutsches Mädchen, aber,
wie man schon allein am Vornamen merkt, ein Mädchen, mittlerweile eine junge
Frau mit „Migrationshintergrund“. Den Buchstaben „ç“ gibt es im deutschen
Alphabet nicht. Migrationshintergrund ist so ein Begriff, der für viele schon
fast Syndromcharakter trägt, zumindest aber einein Risikofaktor zu bedeuten
scheint, selbst wenn ein Kind in Deutschland geboren wurde. Gülçans Eltern hatten
schon vor Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Sie selbst hatte
damit keine Probleme, warum auch? Sie hätte ihre Geschichte ohnehin nicht
ändern können, und ihre Eltern fand sie so gut, wie sie waren, schließlich
kannte sie sie von Klein auf, hatte sie schätzen und lieben gelernt, so wie sie
auch von ihnen geschätzt und geliebt wurde, und sie wusste, wie sie sie nehmen
musste.
Ich
wurde auf die junge Frau zum ersten Mal in einem meiner Seminare an der
Universität Oldenburg aufmerksam. Es ging darin um die Bildungssituation von
Kindern mit jenem besagten Migrationshintergrund, der eigentlich weltweit
betrachtet gar nicht so etwas Besonderes ist, nicht einmal bei genauerem
Hinsehen für große Teile der deutschen Bevölkerung, ein Teil der Normalität bei
der großen Mehrheit auch derer, die sich geradezu für Prototypen der „deutschen
Leitkultur“ halten..
Gegenstand
de Unterrichts war die vierte Säule unseres dreigliedrigen Schulsystems, die
Förderschule. Früher hieß sie „Hilfsschule“, danach „Sonderschule“, später
„Schule für Lernbehinderte“, heute „Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt
Lernen“. Mit jedem neuen Namen hatte man sich bemüht, den negativen Stempel,
den diese Schulform den Kindern aufdrückte, mit einer anderen Farbe zu
versehen, was natürlich das Ergebnis des Stempelabdrucks nicht veränderte:
irgendwie dumm!
Gülçan
fühlte sich in dieser Stunde wohl besonders angesprochen. Mir schien dies nicht
verwunderlich, weil gerade Kinder mit türkischem Migrationshintergrund mittlerweile
überproportional in dieser Schulform vertreten sind, und Gülçan ja selbst bei
einigen ihrer Kommilitoninnen als „Türkin“ galt. Wir sprachen darüber, dass fehlende
Deutschkenntnisse nach allen Erlassen kein Kriterium sein darf, um für ein Kind
ein Verfahren zur Feststellung der Förderbedürftigkeit und seine Überweisung
auf eine Förderschule einzuleiten. Woran aber liegt dann der hohe Anteil dieser
Kinder in den Förderschulen? Wenn wir davon ausgehen, dass die Lehrerinnen und
Lehrer sich um alle ihre Kinder wirklich kümmern, wenn sie niemanden bewusst vernachlässigen, was wir einmal
unterstellen wollen, wenn zudem die Verfahren zur Überprüfung auch tatsächlich
gut und brauchbar sind, dann, so eine These, bliebe nur die allgemeine
Feststellung, dass vielleicht doch die Migration selbst auch dann, wenn sie
schon einige Generationen zurückliegt, noch erhebliche negative Effekte auf die
schulischen Leistungen der sogenannten „Migrationshintergrundkinder“
zu haben vermag,. Die These, dass türkische Immigrantenkinder einfach weniger
intelligent wären als die nur deutschen Kinder, wurde von niemandem nicht
einmal im Scherz vertreten.
Und
da begann Gülçan mit ihrer Geschichte.
Wie gesagt, es ist ein Einzelfall mit ganz besonderen Bedingungen, nicht
übertragbar, nicht allgemeingültig, aber er kann dennoch nachdenklich machen.
Gülçan
hatte ihre Grundschulzeit noch gut in Erinnerung: Sie gehörte damals zu den leistungsschwachen
Schülerinnen in der Klasse, hatte nur wenige Freundinnen, und immer, wenn es
irgendwo Streit gab, war sie zumindest in der Nähe. Schule war für Gülçan mehr
ein Alptraum, nicht eine Einrichtung, in der man sich wohl fühlen und mit
Begeisterung lernen konnte. Zwar übte sie zuhause für alle Klassenarbeiten,
aber sie waren dann trotzdem daneben. Das motivierte sie nicht gerade zum
Weiterlernen. – So begann für
Gülçan und so beginnt für ganz viele
Kinder nicht nur mit Migrationshintergrund der schulische Abstieg,. Am Ende erscheinen
zumindest bei einigen von ihnen die Lücken so gravierend, dass sie sich mit den
normalen Mitteln der Grundschule und mit zusätzlichem Förderunterricht allein,
nicht mehr beheben lassen. Um sicher zu gehen, dass die Ursache für die
Schulprobleme nicht in erster Linie bei der Schule, sondern eher beim Kind zu suchen sind, können Lehrkräfte dazu
verleitet werden, ein Aufnahmeverfahren für eine Förderschule einzuleiten.
Darüber müssen die Eltern dann informiert werden.
So
geschah es auch am Ende mit Gülçan. Eine Förderschule ist ja – d er Idee nach –
eine Schulform, in der speziell ausgebildete, besser bezahlte Lehrkräfte in
kleineren Klassen in stärker individualisierendem Unterricht auf jede einzelne
Schülerin, auf jeden einzelnen Schüler gezielt eingehen können, um sie oder ihn
wieder an den Lernstoff der weiterführenden Schule heranzuführen, um sie oder
ihn, wenn immer möglich, wieder auf eine Regelschule (Hauptschule)
zurückzuführen. Es ist bekannt, dass dies nur in äußerst seltenen
Ausnahmefällen gelingt. Bei Gülçan lief es aber anders:
Als
Gülçans Vater davon erfuhr, dass seine Tochter in die Förderschule
„abgeschoben“ werden sollte, wie er das nannte, ging er sofort in die Schule,
um Klassenlehrerin und Rektorin zur Rede zu stellen. Es war ein weitgehend
einseitiges Gespräch, in dem der Vater der Schule erhebliche Vorwürfe machte,
seine Tochter sei nicht behindert, seine Tochter nicht! Sie sei nur nicht genügend im Unterricht
unterstützt worden, und man hätte keine Rücksicht auf ihre besondere Lebensgeschichte
und ihre Zweisprachigkeit genommen. „Was wissen schon türkische Eltern!?“ würde
mancher deutscher Lehrer sagen. Dieser Vater schien eindeutig die „Qualität“
der Förderschule und die damit verbundene „Wohltat“ für seine Tochter nicht
richtig beurteilen zu können. Er erreichte entsprechend nur, dass kein
Überweisungsverfahren eingeleitet und das Kind nicht an eine Förderschule
überwiesen wurde. Sie wurde sogar versetzt (einige sagten, die wollten keinen
Ärger mit dem Vater haben, andere, sie wollten das störende Kind nicht noch ein
Jahr erdulden müssen), und so kam sie sogar, ohne einmal sitzen geblieben zu
sein, in die Hauptschule. Natürlich konnte nicht erwartet werden, dass eine
Schülerin, die für die Förderschule vorgesehen war, am Ende eine Gymnasialempfehlung bekam. Das war
selbst diesem Vater klar.
Es
sei noch einmal betont, dass es sich hier um einen besonderen Fall handelt.
Dennoch ist aus wissenschaftlichen Untersuchungen bekannt, dass Lehrkräfte
häufig geneigt sind, von Überweisungsverfahren Abstand zu nehmen, auch Kinder
besser bwerten, wenn sie sehen, dass sich die Eltern um die schulischen
Angelegenheiten ihrer Kinder kümmern und die Maßnahmen der Schule durchaus auch
kritisch hinterfragen.
Gülçans
Leistungen ließen auch in der Hauptschule noch viel zu wünschen übrig. Sie war
weit von guten Noten entfernt, aber die Eltern suchten den Kontakt zu den
Lehrkräften, zeigten, dass das Vorurteil, „Türkischen Eltern ist die Ausbildung
zumindest ihrer Töchter gar nicht so wichtig“, schlicht falsch war. Nach einer
Weile gelang es besonders dem Klassenlehrer, der in der Klasse Englisch
unterrichtete, nach der Rücksprache mit den Eltern und nach einem Hausbesuch,
Gülçan in einer Weise anzusprechen,
dass ihr Interesse an der Fremdsprache geweckt wurde. Bald stand sie glatt zwei
in diesem Fach, und sie bekam das erste Mal die Anerkennung, die ihr immer
zuvor gefehlt hatte. Dieser Lehrer hatte das sprachliche Potenzial, das allein
schon durch die Zweisprachigkeit von Gülçan, Türkisch und Deutsch, gegeben war,
erkannt und für den Fremdsprachenunterricht zu nutzen gewusst.
Die
„2“ in Englisch führte nicht sofort zu einem Durchbruch in den anderen Fächern.
Aus der „schlechten“ Schülerin wurde nicht die Klassenbeste, aber man begann
sich im Kollegium darüber Gedanken zu machen, ob die damalige Einschätzung der
Grundschule, einer generalisierten Lernstörung, d. h. ein schwerwiegendes,
umfängliches Lernversagen über einen längeren Zeitraum tatsächlich gegeben war.
Diese Faktoren hätten für eine Überweisung in die Förderschule nachgewiesen
werden müssen.
Gülçan
schaffte den Hauptschulabschluss sogar mit Qualifikation. Sie machte eine
Berufsausbildung als Friseuse, was sie aber nicht sehr befriedigte. Deshalb
versuchte sie, ihren Weg zum Abitur am Fachgymnasium an ihrer Berufsschule
weiter zu gehen. Hier blühte sie auf, und ihr wahres Potential kam zum
Vorschein. Ihre Leistungen in allen Fächern lagen bald über dem
Klassendurchschnitt. „Ein typischer Fall von Spätentwickler“, sagten viele
ihrer Lehrer. Das bedeutet, dass ein solches Kind zu einem früheren Zeitpunkt
noch nicht so weit war. Irgendwann macht es dann einen Sprung, wie man es ja
auch beim Wachstum von Kindern zuweilen beobachten kann. Für die Entwicklung
der Begabung eines Kindes ist ein solcher Vergleich allerdings fraglich. Gülçans
Misserfolg in den ersten Schuljahren lag eher nicht in ihrer fehlenden Reife
begründet, sondern darin, dass das Kind zuvor trotz besten Bemühens ihrer
Grundschullehrerin nicht in adäquater Weise angesprochen und gefördert worden
ist. Die wahre Leistungsfähigkeit ist nicht im Anschluss an einen
Reifungsprozess des Kindes offensichtlich geworden, sondern nachdem ein Lehrer
auf die besonderen Bedürfnisse des Kindes eingegangen und seine Fähigkeiten
erkannt und adäquat gefördert hat. Allzu leicht wird versucht, strukturelle
Unzulänglichkeiten im Schulsystem, wie z. B. allein der große Druck, der durch zu
große Klassen und die notwendigen Empfehlungen für eine der drei
weiterführenden Schulen auf den Lehrkräften der Grundschulen lastet, durch fehlende
Reife, mangelnde Fähigkeiten oder unadäquates Verhalten von Kindern oder ihren
Eltern zu erklären.
Am
Ende war Gülçan so gut, dass sie zum Studium der Interkulturellen Pädagogik,
ein Fach mit hohem Numerus Clausus, zugelassen wurde. Selbstverständlich hatte
sie in diesem besonderen Studiengang ganz viel aus der eigenen Geschichte
beizutragen. Aber nicht das machte ihre besondere Befähigung aus. Sie
entwickelte sich zu einer Studentin, die befähigt war, auf einem hohen Abstraktionsniveau
kritisch nachzufragen, schwierigste Texte zu analysieren und Verbindungen zwischen unterschiedlichen theoretischen Grundpositionen
aufzunehmen und kreativ zu verarbeiten,
so dass Ansätze neuer Konstrukte
erkennbar wurden. Alle Prüfungen im Studiengang schloss sie mit „sehr gut“ ab,
und mit gleicher Note wurden ihre Diplomarbeit und die abschließende mündliche
Abschlussprüfung bewertet. Schon vor dem Abschluss ihrer letzten Prüfung hatte
sie eine angemessen dotierte Leitungsstelle in einer Organisation im sozialen
Feld sicher. Aus der glücklicherweise verhinderten „Förderschülerin“ hatte sich
eine der besten Studentinnen in unserem Studiengang entwickelt.
Wir
sollten noch einmal kurz darüber nachdenken, was passiert wäre, wenn Gülçan
einen Vater gehabt hätte, der dem Bildungssystem in Deutschland vollstes
Vertrauen entgegengebracht hätte. Gülçan wäre vermutlich auf der Förderschule
gelandet. Manchmal stellen Grundschullehrkräfte Kinder nur vor, um einmal zu
sehen, was beim Überweisungsverfahren rauskommt, und sind dann ganz überrascht,
wenn tatsächlich eine Überweisung vorgeschlagen wird. Genauso kann es natürlich
auch sein, dass im Verfahren deutlich wird, dass trotz anderer Auffassung der
Grundschullehrkräfte ein Verbleib in der bisherigen Schulform angeraten wird,
wobei nicht sicher sein dürfte, dass dies dann automatisch zu einer besseren
Förderung des Kindes führt. Und die schlechte Leistung kannn am Ende dieselbe
sen.
Das
Stigma eines Abschlusszeugnisses oder gar nur eines Abgangszeugnisses von einer
Förderschule, dazu gepaart mit einem zweiten Stigma: „Migrationshintergrund“
bedeutet einen tiefen Fall. Schon Hauptschulabgänger finden kaum eine Arbeitsstelle,
geschweige denn einen Ausbildungsplatz.. Ehemalige Schülerinnen und Schüler der Förderschulen sind absolut chancenlos.
Eine Folge der damit verbundenen Frustration könnte bei den Fähigkeiten einer
Reihe dieser Jugendlichen dazu führen, dass sie die Diskriminierungen erkennen,
die sie durch das Schulsystem erfahren haben. und die sie auch als
Ungerechtigkeiten der Gesellschaft ihnen als „Ausländern“ gegenüber wahrnehmen.
Das dürfte dann wohl kaum dazu beitragen, dass sie zum Wohl und zur
Weiterentwicklung unserer gemeinsamen Gesellschaft und unserer gemeinsamen Kultur
mit Begeisterung beitragen wollen, sondern dass sie eher fundamentalistischen
Leitbildern hinterher laufen, von denen ihnen eigene Stärke vorgegaukelt wird.
Natürlich,
Gülçan ist ein besonderer Einzelfall. Weder alle „deutschen“ noch alle Kinder
mit Migrationshintergrund, die aus welchen Gründen auch immer einen schlechten
Schulstart hatten, werden am Ende eine Hochschullaufbahn anstreben können, aber
dennoch muss die Frage erlaubt sein: „Gibt es in unseren Förder- oder
Hauptschulen vielleicht doch noch eine
Reihe von Kindern, die nur aus dem Grunde dort verblieben sind, weil sie keine
Eltern hatten, die alles zunächst hinterfragt haben und den Lehrerurteilen
nicht blind vertraut haben? Die
Möglichkeiten, mit einem Einspruch gegen eine Überweisung an eine Förderschule
vor einem deutschen Gericht Recht zu bekommen, sind seit dem Inkrafttreten der
Behindertenrechtskonvention im April diesen Jahres gestiegen, weil darin das
Recht auf eine gemeinsame Beschulung aller Kinder und auf Inklusion als
Menschenrecht herausgestellt wird. Doch die ist ein neues Thema.
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