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Die Gaste, Ausgabe 12 / Mai-Juni 2010
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Deutsch oder Muttersprache? Nein: Deutsch und Muttersprache!
[Almanca mý, Anadili mi? Hayýr: Almanca ve Anadili!]
Prof. Dr. Hans-Peter SCHMIDTKE
(Carl von Ossietzky Universität Oldenburg)
In einem haben die Lehrkräfte recht: In der deutschen Schule und zum Erreichen von gesellschaftlich angesehenen höheren Positionen oder auch nur, um im Kampf um eine Lehrstelle überhaupt antreten und bestehen zu können, sind Kenntnisse der deutschen Sprache unabdingbar. An guten Deutschkenntnissen geht kein Weg vorbei, und alle Beteiligten an den Lernprozessen, Schule und Elternhaus, sollten erkennen, dass sie dieses Ziel nur gemeinsam erreichen können, nur in der Kooperation, das ist richtig. Aber wie könnte und sollte dies aussehen?
Auf der Tagung „Sonderschule/ Fo¨rderschuleproblematik und Migration" der Zeitschrift DIE GASTE am 13. Februar 2010 tauchte u. a. die Frage auf, welche Sprache denn Eltern mit ihren Kindern zuhause sprechen sollten. Oft wird nach wie vor von Lehrkräften an den Grund- und weiterführenden Schulen den Eltern mit Migrationshintergrund geraten, doch besser zuhause Deutsch mit den Kindern zu reden. Deutsch ist die Sprache des Umfeldes, Deutsch ist die Schulsprache, von den Deutschkenntnissen hängt ganz zentral ab, welche Schullaufbahn das Kind nach seiner Grundschulzeit einschlagen wird. Hat es nicht genügend Deutschkenntnisse, ist der Weg zum Gymnasium in aller Regel versperrt, auch wenn die Schulleistungen ansonsten positiv sind. Auf der Essener Tagung wurden viele Beispiele dafür genannt, dass trotz anders lautender Erlasse Kinder sogar aufgrund ihrer fehlenden Deutschkenntnisse in den Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen landen, unterstützt durch fragwürdige Testverfahren, die aufgrund ihrer Kultur- und Sprachabhängigkeit überhaupt nicht in der Lage sein können, ein einigermaßen objektives Bild von der Leistungsfähigkeit eines Kindes zu zeichnen, geschweige denn prognostischen Wert haben
In einem haben die Lehrkräfte recht: In der deutschen Schule und zum Erreichen von gesellschaftlich angesehenen höheren Positionen oder auch nur, um im Kampf um eine Lehrstelle überhaupt antreten und bestehen zu können, sind Kenntnisse der deutschen Sprache unabdingbar. An guten Deutschkenntnissen geht kein Weg vorbei, und alle Beteiligten an den Lernprozessen, Schule und Elternhaus, sollten erkennen, dass sie dieses Ziel nur gemeinsam erreichen können, nur in der Kooperation, das ist richtig. Aber wie könnte und sollte dies aussehen?
Noch in den neunzehnhundertsiebziger Jahren gab es in Nordrhein – Westfalen einen Erlass für den Elementarbereich, der es den Einrichtungen verbot, die Muttersprachen der damals noch ausländischen Kinder zu benutzen. Vor einigen Jahren machte eine hessische Stadt auf sich aufmerksam, weil der Stadtrat es den Kindertageseinrichtungen ebenso untersagt hatte, die Mutersprachen der Kinder mit Migrationshintergrund weiter zu unterstützen, nicht ihren Muttersprachen darf die Aufmerksamkeit gelten, sondern der Verbesserung ihrer Deutschkenntnisse. An anderen Orten beschlossen Lehrer und ganze Schulgemeinschaften mehr oder weniger einmütig die Muttersprachen aus Schule und Unterricht zu verbannen. Es bestand und besteht wohl auch heute noch die Auffassung, dass zuviel Muttersprache beim Erlernen der deutschen Sprache hinderlich sei, ein wirklich zäher Mythos.
Meine Erfahrungen mit meinen eigenen Kindern gehen in eine andere Richtung. Da ich mit einer Katalanin verheiratet bin (der Unterschied zwischen dem Katalanischen und dem Spanischen ist etwa so groß wie zwischen dem Niederländischen und dem Deutschen), und wir als gemeinsame Sprache der Eltern Spanisch sprechen, sehen sich die Kinder drei verschiedenen Sprachen gegenüber. Katalanisch sprechen sie mit ihrer Mutter, Deutsch mit ihrem Vater und das Spanische bekommen sie noch als Zugabe obendrauf, d.h., wenn sie etwas von unseren Gesprächen untereinander mitbekommen oder sich mit unserem spanischsprachigen Besuch unterhalten wollen, müssen sie diese Sprache noch dazu lernen. So ist die Welt in unserer Familie Welt. Ich habe immer darauf vertraut, dass Kinder die Fähigkeit haben, sich an ihre Welt, so wie sie ist, anzupassen, zu lernen, was sie für ihre ganz persönliche Umwelt gebrauchen: wenn es eine Sprache ist, dann eine, sind es zwei, dann eben zwei, und sind es noch mehr, so geht auch das. Nicht die Einsprachigkeit ist der Normalfall in der Welt, sondern die Mehrsprachigkeit, und besonders Kinder sind qua ihrer noch äußerst flexiblen Gehirnstruktur dazu befähigt, Mehrsprachigkeit zu entwickeln, zu handhaben und dann obendrein in den weiterführenden Schulen noch zusätzliche Fremdsprachen zu erlernen.
Aber ist das nicht mehr Theorie als gelebte Praxis? Ist nicht der Fall der Kinder eines Professors für Interkulturelle Pädagogik, dann noch im Zusammenhang einer in Deutschland allseits geschätzten Sprache, dem Spanischen, ohnehin ein Sonderfall, der nicht übertragbar ist? Gibt es nicht ganz viele Kinder mit türkischer, vielleicht auch italienischer oder russischer Muttersprache, bei denen gerade dies nicht klappt?
Vor fast drei Jahrzehnten habe ich über eine Schule in Duisburg berichtet (Schmidtke 1981). Der Artikel trägt die Überschrift: „Besser Deutsch durch mehr Muttersprache“. Natürlich hat sich die Wissenschaft in den letzten 30 Jahren weiter entwickelt, aber die Grundaussage dieses Beitrags von damals ist auch heute noch gültig. Worin bestand die Besonderheit dieser Schule.
Die Grundschule an der Werthauser Straße .in Duisburg hatte sich gegen Ende der siebziger Jahre von einer Schule mit hohem Anteil ausländischer, hauptsächlich spanischer Schülerinnen und Schüler zu einer Schule mit nahezu hundert Prozent türkischer Kinder des Stadtteils, eine alte, zum Abriss anstehende Zechensiedlung entwickelt. Zu jener Zeit galt in der Politik noch der Grundsatz: „Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland“, ein Auffassung, die erst 2005 mit dem Zuwanderungsgesetzt aufgehoben wurde. Für die Bildungspolitik bedeutete dies, dass die Schulen eine Doppelaufgabe zu erfüllen hatten, zum einen sollten sie einen Beitrag zur Integration der Kinder „für die Dauer ihres Aufenthaltes“ leisten, und zum andere ihre Rückkehrfähigkeit erhalten. Dem sollte der Unterricht in den Muttersprachen dienen, damit die Kinder bei der „Reintegration in ihre „Heimatländern“ nicht auch noch Sprachschwierigkeiten hätten. Man kann heute sagen, dass die Schulen dem eigentlich weder in die eine, noch in die andere Richtung voll gerecht geworden sind. Versucht haben dies die Lehrerinnen und Lehrer an der Werthauser Str. auch, aber im Gegensatz zu vielen anderen Schulen fand sich hier ein Kollegium, das Interesse an der türkischen Sprache entwickelte, das seine türkischen Kollegen als gleichberechtigte Partner in den Unterricht einbezog und sie gehäuft bat, zwischen ihnen und den Eltern nicht nur allein sprachlich zu vermitteln.
Die Aufgabe, Erhalt der Muttersprache, veränderte sich im Laufe eines Schuljahres in eine zusätzliche Förderung der Muttersprache. Die türkische Sprache bekam einen festen Platz im regulären Stundenplan, sprachen doch fast alle Kinder zuhause Türkisch. Die Folgen dieser eher kleinen stundenplantechnischen und inhaltlichen Veränderung des Schulalltags war ausgesprochen verblüffend:: Übereinstimmend stellten die Lehrkräfte fest, dass sich seit Beginn der größeren Förderung der türkischen Sprache, die Leistungen in der deutschen Sprache, die Beziehungen zwischen Schule und Eltern und auch das Schulklima zunehmend verbesserten. Natürlich kam dieser Erfolg nicht allein durch die türkischen Lehrkräfte an der Schule und ihren Türkischunterricht zustande. Den Eltern wurde mit der Stärkung des Türkischen bewusst, dass es in dieser Schule nicht darum ging, ihnen ihre Kinder zu entfremden. Die Achtung, die die Lehrkräfte für ihre Sprache zeigten, ließ erkennen, dass sie auch alles andere, Religion, Lebensformen und Traditionen in gleicher Weise schätzten. Die Schule Werthauser Str. entwickelte sich zu der Schule, denen die türkischen Eltern Vertrauen entgegen brachten. Fortan gab es kaum noch Probleme wegen Sportunterricht und auch beim Schwimmunterricht durften fast alle Kinder ohne weiteres mit machen. Bei Klassenfahrten hielten die Eltern ihre Jungen und Mädchen nicht mehr zurück, die Beteiligung der Elternschaft am Schulleben insgesamt nahm zu. Die Ausweitung des Türkischunterrichts war so etwas wie eine vertrauensbildende Maßnahme zwischen Eltern und Schule, die sich auch auf das Lernklima in den Klassen positiv auswirkte.
Aber auch die Stärkung der türkischen Sprache selbst hatte positive Auswirkungen und führte zu Verbesserungen selbst in der deutschen Sprache. Um das zu verstehen, ist ein gewisses Umdenken in unserer Vorstellung vom Spracherwerb erforderlich. In der Regel werden Sprachen als voneinander mehr oder weniger getrennte Systeme mit eigener Lexik, eigener Phonetik und eigener Grammatik verstanden, die es einzeln zu lernen gilt. Die Erstsprache erlernen wir quasi spielerisch als Muttersprache mit all der Affektivität, die die Beziehung zwischen Eltern und Kind ausmachen. Die Potentiale des Kindes, die Sprache zu erlernen, die von seinen Eltern und seinem Umfeld als die richtige empfunden wird, sind so groß, dass am Ende, je nach den Sprachen der Eltern Arabisch oder Suaheli dabei herauskommen kann.
Das Kind passt sich in all seinen Verhaltensweisen seinem Umfeld an, auch in seinem sprachlichen Verhalten. Und wenn in der Umwelt eines Kindes zwei oder drei nach unserem linguistischen Verständnis grundverschiedene Sprachen gesprochen werden (chinesischer Vater, finnische Mutter, die untereinander englisch sprechen und jetzt in Deutschland wohnen) so wird das Kind sein sprachliches Verhalten entsprechend erweitern und differenzieren. D. h. aufgrund seiner besonderen Situation ist es gezwungen, sich viel stärker mit dem Phänomen der menschlichen Sprache in all seiner Vielfältigkeit auseinander zu setzen, auch wenn es ihm nicht bewusst ist, als ein Kind, das in einem einsprachigen Umfeld aufwächst. Die Mehrsprachigkeit eines Kindes behindert entsprechend nicht sein Sprachenlernen, sondern ganz im Gegenteil, es fördert es. Die Aussage vieler Lehrkräfte, dass z. B. ein türkisches Kind in einer Klasse sowohl die Muttersprache, als auch die deutsche Sprache nicht richtig beherrsche, in beiden Sprachen nur halb zuhause sei, verkennt das sprachliche Potential, dass in der Fähigkeit steckt, sich in beiden Sprachen auszudrücken, selbst wenn es nicht zweifach einsprachig sein kann. Die Messlatte des sprachlichen Vermögens bei den Einsprachigen zu legen, verkennt die Anlage, die durch die Zweisprachigkeit gelegt ist.
Aber zu jedem Lernen bedarf es einer Motivation, einer Zuwendung und eines Anspruchs von der Umwelt. Auch eine Sprache, Muttersprache oder Zweitsprache, lernt sich nicht von allein. Es wird gesagt, dass König Friedrich II (1194 – 1250) ein Experiment durchgeführt habe, um die Ursprache des Menschen zu erforschen. Was sprechen Kinder, wenn sie durch keine andere Sprache beeinflusst wurden? Dazu, so wird berichtet, wurden Säuglinge von ihren Müttern getrennt. Ihre Ammen durften nicht mit ihnen sprechen und ihnen keine Zuneigung zuteil werden lassen. Man sagt, dass die Kinder nie sprechen lernten, sondern sehr bald starben.
Auch wenn der Wahrheitsgehalt dieser Geschichte umstritten ist, so ist doch richtig, dass ohne ein Modell, ohne eine anregungsreiche Umgebung kein Lernen möglich ist. Je differenzierter die Umgebung und je intensiver die Beschäftigung mit dem Kind und das Anregungspotential in
· – Grundsätzlich gilt: Für Kinder muss keine künstlich einsprachige Umgebung geschaffen werden. Wenn die Muttersprache Türkisch und die der Umgebung Deutsch ist, ist ein Kind befähigt, beide Sprachen zu erlernen.
· – Türkischsprachige Eltern´ sollten sich nicht als Deutschlehrer versuchen, auch wenn die Schule sie darum bittet. Da Kinder ihre Sprache sehr stark am Modell lernen, führen fehlerhafte Modelle im Spracherwerbsprozess zu Fehlern im sprachlichen Verhalten, die sich oft nur schwer wieder korrigieren lassen.
· – Eltern helfen ihren Kindern dadurch zu einem differenzierten sprachlichen Verhalten, wenn sie in ihrer Muttersprache ein gutes sprachliches Vorbild sind.
· – Je mehr ein Kind sprachlich gefordert wird, auch wenn es allein in der Muttersprache ist, desto größer werden seine Fähigkeiten sein, mit Sprache umzugehen. Mehrsprachige Elternhäuser oder Familien in anderssprachiger Umgebung sind hier zusätzlich gefordert, weil die Umwelt höhere Erwartungen an das Kind stellt. Eine Hilfe kann dadurch gegeben werden, dass die Eltern bewusst all ihre Handlungen mit dem Kind sprachlich begleiten, dass sie dem Kind immer wieder Anlässe geben, sich sprachlich auszudrücken
· – Ein besonderer Wert liegt in der Heranführung der Kinder an das Buch. Bilderbücher bieten für Kleinkinder eine Fülle von Sprechanlässen, wenn ihnen denn die Möglichkeit geschenkt wird, sich bestenfalls mit beiden Elternteilen über alles zu unterhalten.
· – Ein großer, unbezahlbarer Schatz, um das sprachliche Verhalten der Kinder weiter zu fördern, liegt im Vorlesen. Auch hier geht es nicht darum, dass türkischsprachige Eltern sich an deutschen Kinderbüchern versuchen, sondern dass sie in ihrer Sprache vorlesen und über das Gelesene mit dem Kind kommunizieren. Auf diese Weise wird das Kind seine sprachlichen Fähigkeiten ausdifferenzieren, was ihm auch für beim Erlernen der anderen Sprache(n) in seiner Umwelt zugute kommt. Jede hier investierte Stunde muss nicht im Schulalltag als zusätzliche Nachhilfestunde für das Kind bezahlt werden.
· – Kinder spielen gern mit der Sprache, erfinden neue Wörter, übertragen grammatische Strukturen, suchen selbständig Verbindungen. Hier sollten Eltern nicht kritisieren, sondern die Kinder durch richtige Wiederholungen der Sätze ermuntern weiter zu sprechen und die Sprache kreativ einzusetzen.
· – Ein Rat noch für die deutschen Lehrkräfte: Fordert eure Eltern auf, zuhause in ihrer Muttersprache mit ihren Kindern zu reden, eröffnet ihnen Möglichkeiten, um an Bücher in den jeweiligen Sprachen zu kommen, die in den Elternhäusern der Kinder gesprochen werden.
Die Frage, was Eltern in der Migration bei ihren Kindern stärker fördern sollen, die Muttersprache oder das Deutsche, darf keine Alternativfrage bleiben. Türkische Eltern, auch wenn sie nur wenig Deutsch sprechen, können ihr Kinder beim Deutschlernen dadurch unterstützen, dass sie ihnen eine gute Basis in ihrer Muttersprache, Freude am sprachlichen Ausdruck, Zutrauen zu ihren (sprachlichen) Fähigkeiten, Selbstsicherheit, und Freude am Buch und am Lesen mit auf den Weg geben. Damit hat das Kind die beste Basis, auch im Deutschen hervorragend zu bestehen.
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