Die Gaste, Ausgabe 13 / Juli-Oktober 2010

Integration in der Einwanderungsgesellschaft
[Göç Toplumunda Entegrasyon]


Prof. Dr. Franz HAMBURGER
Mainz Üniversitesi Eðitimbilimleri Enstitüsü




Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration (SVR) hat sein erstes Jahresgutachten vorgestellt, verbunden mit einem Integrationsbarometer. Wichtigstes Ergebnis: Deutschland ist in Sachen Integration viel besser als sein Ruf

Erfolgsfall Integration

Deutschland ist angekommen in der Einwanderungsgesellschaft. Sie ist kein Zustand, sondern ein vielgestaltiger Sozial- und Kulturprozeß, der fortwährend beide Seiten verändert. Vielfalt und Diversität wachsen auch bei abnehmender Zuwanderung aus demographischen Gründen eigendynamisch weiter. Ergebnis ist ein beschleunigter, manche Zeitgenossen scheinbar überfordernder Wandel von Strukturen und Lebensformen. Integration in der Einwanderungsgesellschaft wird in der Erfahrung zwar alltäglicher, aber auch unübersichtlicher.

Aber Integration in Deutschland gelingt: ‚Die‘ Integration in ‚die‘ Gesellschaft gibt es nicht, weil Gesellschaft aus den verschiedensten Teilbereichen besteht. Als meßbare Dimension definiert der SVR deshalb Integration als soziale Anerkennung in Gestalt möglichst gleicher Teilhabechancen an zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wie Erziehung, Bildung, Ausbildung, Teilhabe am Arbeitsmarkt, an Rechts- und Sozialsystemen, poltischer Mitbestimmung u.a.m. Gewichtung und Grad der Teilhabe können dabei durchaus unterschiedlich ausfallen. In diesem Sinne wird Integration in Deutschland, auch im internationalen Vergleich, in vielen Bereichen zunehmend erfolgreicher.

Ausnahmen bei einzelnen Gruppen und Bereichen bestätigen die Regel und relativieren sich zudem im internationalen Vergleich:

Ein stereotypes Gruppenbeispiel ist die im Vergleich zu anderen Herkunftsgruppen in der Tat langsamer voranschreitende Integration von Zuwanderern mit türkischem Migrationshintergrund, gemessen am Bildungserfolg. Aber dabei werden meist immer noch die alten ‚Gastarbeiter‘ der 1960er und 1970er Jahre mitgezählt und die oft bildungsfernen Kultur- und Sozialmilieus, denen sie entstammten ebenso unzureichend berücksichtigt wie die intergenerativen Integrations- und Bildungserfolge: Der Weg des Enkels von anatolischen ‚Gastarbeitern‘ mit abgebrochener oder gar nicht vorhandener Grundschulausbildung und ohne berufliche Qualifikation zum Abitur steht am Ende eines bei weiterem steileren und rasanteren Bildungsaufstiegs als das Abitur des Enkels eines deutschen Straßenbahnschaffners.

Bereichsbeispiel: Die Arbeitslosigkeit liegt bei Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland zwar nach wie vor mehr als anderthalbmal so hoch wie bei der Mehrheitsbevölkerung. Unter diesen Arbeitslosen sind aber nicht nur unzureichend qualifizierte Zuwanderer, sondern auch Hochqualifizierte mit nicht anerkannten Berufsabschlüssen und unzureichenden Deutschkenntnissen. Außerdem ist in anderen europäischen Einwanderungsländern, wie etwa in den Niederlanden und Schweden, für Zuwanderer das Risiko, arbeitslos zu werden, annähernd dreimal so hoch.

Ein verhalten positives Bild von Integration zeigt sich nicht nur bei den objektiv messbaren Integrationsindikatoren. Es spricht auch aus den subjektiven Einschätzungen und Wahrnehmungen des Integrationsalltags auf beiden Seiten der Einwanderungsgesellschaft, also bei Personen mit und ohne Migrationshintergrund.

Das SVR-Integrationsbarometer zeigt dazu: Beide Seiten der Einwanderungsgesellschaft sehen Integration pragmatisch und zuversichtlich. Und sie haben ein hohes Grundvertrauen zueinander. Dabei vertrauen sie zum Teil den Deutschen nicht nur mehr als der eigenen Herkunftsgemeinschaft, sondern sogar mehr als die Deutschen sich selber.

Anlass zu vorsichtigem Optimismus gibt auch der im Rahmen des SVR-Integrationsbarometers erstmals errechnete Integrationsklima-Index (IKI): Er misst Erfahrungen und Einstellungen der Befragten für verschiedene Bereiche der Integration wie z.B. Arbeitsmarkt, Nachbarschaft oder Bildungssystem. Auf einer Skala von 0 (sehr schlecht) bis 4 (sehr gut) erreicht der IKI für das Jahr 2009 positive Mittelwerte zwischen 2,77 für die Mehrheitsbevölkerung und sogar von 2,93 für die Zuwandererbevölkerung.

Dieses verhalten positive Ergebnis ist noch kein Grund zum Jubilieren, aber ein klares Gegenbild zum deutschen Integrations-Gejammer auf hohem Niveau und vor allem zur Skandalisierung einer angeblich flächendeckend ‚gescheiterten Integration‘. Dieses düstere Bild ist, von Ausnahmen abgesehen, ein grotesker Zerrspiegel der Einwanderungsgesellschaft in Deutschland.

Desintegrative Kakophonie

Auf der einen Seite steht die Rede von der vermeintlich ‚mangelnden Integrationsbereitschaft‘ oder gar ‚Integrationsunfähigkeit‘ insbesondere muslimischer Zuwanderer. Auf der anderen Seite steht das nicht minder klischeehafte, mitunter auch von Stimmen aus Migrantenverbänden bestärkte Bild einer im Kern integrationsresistenten Mehrheitsbevölkerung, die die nimmermüden Integrationsanstrengungen der Zuwanderer ins Leere laufen lässt. Beides ist einseitig und damit falsch.

Das Integrationsbarometer des SVR liefert die empiriegestützten Selbstbeschreibungen auf beiden Seiten der Einwanderungsgesellschaft in Deutschland. Sie zeigen: Auf beiden Seiten dominiert nicht nur ein gemeinsames Integrationsverständnis, sondern sogar ein deutlicher Integrationsoptimismus. Beide Seiten teilen gemeinsame pragmatische und weitgehend positive Einschätzungen der Integration: Für integrationsrelevant halten beide Seiten zu jeweils über 95 Prozent vor allem die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, verbesserte Bildungs- und damit Arbeits- und Aufstiegschancen, das Angebot von Sprachkursen und den Abbau von Diskriminierung.

Diese pragmatischen Themen und nicht die abgestandenen, aber stets neu aufgerührten Glaubens- und Grundsatzfragen sind es, die die Menschen mit und ohne Migrationshintergrund im Alltag der Einwanderungsgesellschaft tatsächlich interessieren.

Darüber hinaus haben beide Seiten wechselseitig sogar die gleichen Zuständigkeitszuschreibungen: So weisen Befragte mit und ohne Migrationshintergrund die Verantwortung für Integration zu zwei Dritteln den Zuwanderern und nur zu einem Drittel der Mehrheitsbevölkerung zu.

Das aber heißt: Der alte Scheinkonflikt um die falschen Alternativen von zwanghafter Assimilation oder wildwüchsiger Multikulti-Idylle ist im pragmatischen Alltag der Einwanderungsgesellschaft längst vom Tisch. Diesen Wandel sollten sich manche Innenpolitiker klarer vor Augen halten.

Integration als Mainstream-Thema

Integration ist heute endlich auch ein politisches Mainstream-Thema geworden. Sie wird in die großen politischen Gestaltungsbereiche zunehmend routiniert und pragmatisch einbezogen. Die deutschen Regelungen zu Migration und Integration unterscheiden sich in ihren Grundelementen kaum mehr von denen der europäischen Nachbarn. Auch Politik ist heute, mit einiger historischer Verspätung, angekommen in der Einwanderungsgesellschaft.

Politik neigt dabei in ihrer Selbstinszenierung mitunter dazu, hier Ursache und Folge zu verwechseln und das jahrzehntelange friedliche Zusammenwachsen der Einwanderungsgesellschaft als Ergebnis ihrer eigenen, zum Teils arg verspäteten und lange widerwilligen Anpassung an diesen Prozess zu deuten. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß in der Aufholhektik der letzten 10 Jahre integrationspolitisch de jure und de facto mehr geschehen ist als in den vier Jahrzehnten zuvor. Politik hat damit umgesteuert vom lange angstvoll-defensiven auf pro-aktiven Integrationskurs. Sie hat dabei kraftvoll Tritt gefaßt.

Aber es gibt nach wie vor Dunkelzonen; denn: Die Folgen von Versäumnissen der Vergangenheit in Integration und Integrationspolitik bleiben Zukunftsbelastungen für die Einwanderungsgesellschaft.

Soziale Spannungspotenziale

In der Einwanderungsgesellschaft in Deutschland gibt es ein Integrationsparadox: Es gibt ein verhalten optimistisches Selbstbild der Einwanderungsgesellschaft und ein zunehmend pragmatisches Verhältnis zu Integrationsfragen. An der breiten Basis der Sozialpyramide aber gibt es nach wie vor viele Familien mit starken, zum Teil über Generationen hinweg anhaltenden Integrationsdefiziten als Teil einer ‚neuen Unterschicht‘ mit, aber auch ohne Migrationshintergrund. Ihre prekären Sozialmilieus werden durch die in Deutschland besonders ausgeprägte Vererbung der sozialen Startnachteile intergenerativ stabilisiert.

Die unzureichende Qualifikation vieler Jugendlicher aus diesen Milieus blockiert nicht nur deren Erwerbschancen. Sie begrenzt zusätzlich auch das – mittelfristig schon aus demographischen Gründen schrumpfende – Arbeitskräfteangebot. Und sie belastet durch zum Teil schon ‚ererbte‘ Transferabhängigkeit den Sozialetat im Wohlfahrtsstaat.

Mehr noch: Die Perspektivlosigkeit der ‚Generation Hartz IV‘ führt zu einem zunehmend aggressiven Empörungspotential. Es wächst mit der Zahl der sozialen Verlierer, die sich ihrer perspektivlosen Lage bewusst werden. Aus dem Umschlag von Frustration in Aggression kommen individuelle Reizbarkeit und spontane Gewaltbereitschaft. Ob sie sich bei gegebenem Anlass in gruppenübergreifende milieuspezifische Konfliktbereitschaft verwandeln werden, ist nicht abzusehen.

Mangelnde Chancengleichheit ist deshalb eine Gefahr für den sozialen Frieden in der Einwanderungsgesellschaft. Politik hat diese wachsende soziale Gefahr noch nicht zureichend erkannt.

Problemstau auf der Integrationsbaustelle Bildung

Von gleichen Bildungschancen oder gar Bildungserfolgen von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund kann noch nicht die Rede sein. Zum Hintergrund zählt ein Dilemma: Nach dem SVR-Integrationsbarometer befürworten Eltern aus Mehrheits- wie Zuwandererbevölkerung zwar durchweg Gleichberechtigung bei den Bildungschancen. Sie haben aber dennoch meist eine negative Einschätzung der Leistungsfähigkeit von Schulen mit ethnisch heterogener Schülerschaft und wollen deshalb für die eigenen Kinder nicht das „Risiko“ ethnisch gemischter Schulklassen eingehen. Das gilt für bildungsorientierte, einkommensstarke Eltern aus der Mehrheitsbevölkerung ebenso wie für Aufsteigerhaushalte mit Migrationshintergrund.

Damit tritt ein Dilemma zutage: Forderungen nach einem Umbau des Bildungssystems zugunsten von Chancengleichheit prallen bei wachsender Heterogenität an der Abwehrhaltung bildungsorientierter Adressaten ab. Solange sich die Einschätzung hält, dass Heterogenität der Schülerschaft und Leistungsfähigkeit der Schule weitgehend inkompatibel sind, wird sich die soziale Segregation im Bildungswesen nicht wirksam bekämpfen lassen. Dieses Dilemma kann man nur begrenzen, wenn sich durch innovatives Engagement, durch konzeptionelle, personelle und materielle Investitionen in heterogene Schulen deren Attraktivität erhöht.

Bitte folgenden Kasten einfügen:
Einwanderungsgesellschaft 2010. Jahresgutachten des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), Berlin 21.5.2010 (www.svr-migration.de). Der Verfasser ist Vorsitzender des SVR (www.kjbade.de).