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Die Gaste, Ausgabe 13 / Juli-Oktober 2010
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Bedeutet die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen das Ende der Sonderschule auch für Migrantenkinder?
[BM Engelli Haklarý Bildirgesi Göçmen Çocuklarý Açýsýndan Sonderschulenin Sonunu mu Ýfade Ediyor?]
Dr. Brigitte SCHUMANN
Die Konvention fordert in Artikel 24 die Anerkennung des Rechts auf gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung. Kein Kind darf aufgrund von Behinderung aus dem allgemeinen Schulsystem ausgeschlossen werden. Das gilt auch für Kinder mit einer sog. Lernbehinderung. Alle staatlichen Instanzen sind verpflichtet dafür zu sorgen, dass dieses individuelle Recht zur Geltung kommt. Sie haben angemessene Vorkehrungen für den Einzelfall zu treffen, damit der besondere Förderbedarf im allgemeinen Schulsystem erfüllt wird. Die Länder sind verpflichtet, das selektive Schulsystem zu einem inklusiven Schulsystem zu entwickeln.
Die auffällige Zahl von Kindern mit Migrationshintergrund in den Sonderschulen - die neuerdings schönfärberisch Förderschulen heißen - ist längst in nationalen und internationalen Bildungsberichten zu einem negativen Kennzeichen für das deutsche Schulsystem geworden. Das Risiko, auf eine Sonderschule für Lernbehinderte überwiesen zu werden, ist für Kinder mit ausländischem Pass doppelt so groß wie das für Schüler/innen deutscher Herkunft. Vernor Munoz, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, hat in seinem Deutschlandbericht (2007) für den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen die Randstellung dieser Gruppe in unserem Schulsystem zum Anlass genommen, Maßnahmen zur Überwindung der ungleichen Bildungschancen zu fordern.
Wie funktioniert das System bislang?
Es sind vor allem die armen Kinder, die ein erhöhtes Risiko haben, als „behindert“ abgestempelt und in Sonderschulen überwiesen zu werden. Insbesondere türkische Zuwanderer sind in Deutschland von Armut bedroht. Einer Statistik der Stiftung Zentrum für Türkeistudien in Essen (2008) ist zu entnehmen, dass 42,5 % der entsprechenden Haushalte in NRW unterhalb der Armutsrisikogrenze leben. Die unübersehbar benachteiligten Lebenslagen der Migrantenkinder in den Sonderschulen legen es nahe, von einem engen Wirkungszusammenhang von Sozialschicht, Schulstruktur und Bildungserfolg auszugehen.
In der Grundschule werden die Kinder schon früh auffällig, die aufgrund ihres Armutshintergrunds, ihrer Unterschichtzugehörigkeit und ihrer fremden Familiensprache die allgemeinen Lernziele der immer noch an deutschen Mittelschichtkindern ausgerichteten Schule nicht erfüllen. Wenn der Leistungsabstand zu groß wird und die Grundschule mit ihren Mitteln die Kinder nicht mehr fördern kann, ist in der Systematik des selektiven Schulsystems die Sonderschule zuständig.
Nach der (Zwangs-)Überweisung in die Sonderschulen geht die Leistungsschere zu den Regelschülern weiter auseinander. Da faktisch keinerlei Durchlässigkeit zum Regelschulsystem existiert, hat die Überweisung in die Sonderschule die Wirkung eines „ausbruchssicheren Gefängnisses“. Über die Bildungsarmut am Ende der Sonderschulzeit wird die Armutslage der Sonderschüler/innen verfestigt. Dennoch hat sich gegen alle wissenschaftlichen Befunde über die geringen Lernerfolge und die negativen Wirkungen der Sonderschule bei Regel- und Sonderschullehrern die positive Vorstellung vom „Schonraum“ Sonderschule festgesetzt. Viele sind davon überzeugt, dass es der Sonderschule gelingt, die Kinder nach ihren Misserfolgen in den allgemeinen Schulen „wiederaufzurichten“ und in der Entwicklung eines positiven allgemeinen und leistungsbezogenen Selbstkonzepts zu unterstützen.
Sonderschulen beschämen und beschädigen die Selbstwahrnehmung
In einer empirischen Studie über die Wirkung des Sonderschulstatus bei Schülern und Schülerinnen der Sonderschule für Lernbehinderte konnte diese Schonraumthese widerlegt werden (Schumann, 2007). Es wurden 197 Schüler/innen und fast ebenso viele Eltern schriftlich befragt sowie 41 Schüler/innen und 10 Eltern interviewt. Zwar konnte nachgewiesen werden, dass die Sonderschule wegen der geringen Leistungsanforderungen und der individuellen Unterstützung durch die Sonderschullehrer/innen Entlastungen und Wohlfühleffekte mit sich bringt. In großer Übereinstimmung bei Schülern und Eltern wurde aber auch deutlich, dass sie belastende Schamkonflikte für beide Gruppen produziert. Die Scham über den Sonderschulbesuch bestimmt das Alltagsverhalten der Schüler/innen und zwingt sie zur Verheimlichung bzw. zur Verleugnung ihres geringen Schülerstatus. Ein so weitgehender Einfluss auf die Selbstwahrnehmung und das konkrete Verhalten lässt auf ein zumindest gefährdetes bzw. beschädigtes Selbstbild schließen. Darüber hinaus stehen die Betroffenen in der Gefahr, das negativ besetzte Bild des Sonderschülers vollständig zu ihrem Selbstkonzept zu machen.
Die Befragungen der Schüler/innen und der Eltern - in der Untersuchung waren sie zumeist türkischer Herkunft - haben übereinstimmend gezeigt, dass Kinder mit Migrationshintergrund es schwerer haben, ihre Schamgefühle zu verarbeiten und unter den Bedingungen der sozialen Beschämung sich selbst zu akzeptieren. Festgestellt wurde, dass ihre Eltern sich nämlich häufiger und intensiver wegen des Sonderschulbesuchs schämen als Eltern herkunftsdeutscher Schüler und Schülerinnen. Die Gefühle von Unterlegenheit, Wertlosigkeit und Ohnmacht werden folglich schmerzhaft verstärkt durch die Wahrnehmung, auch in den Augen der Eltern versagt zu haben und nicht vollständig akzeptiert zu werden. Die Reaktion von Migranteneltern wiederum erklärt sich aus der begründeten Angst, dass ihr Kind zusätzlich zu dem ethnischen Minderheitenstatus auch den negativen Sonderschulstatus ertragen muss und so in eine doppelte Randgruppensituation gerät.
Die Untersuchung hat auch einen ausgeprägten geschlechtsspezifischen Unterschied in der Schambewältigung bei Migrantenmädchen und –jungen gezeigt. Migrantenmädchen erleben einen starken Leidensdruck und richten diesen eher gegen sich selbst, während im Umgang mit Scham Migrantenjungen sich mit Ärgerreaktionen und aggressivem Verhalten zu entlasten versuchen. Gibt es keine Möglichkeiten für sie, ihr Anerkennungsbedürfnis positiv zu befriedigen, können sie in Konflikt mit vorgegebenen sozialen Normen geraten.
Was fordert die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen?
Sie wurde im Dezember 2006 von der UN-Vollversammlung verabschiedet und gilt nach der Verabschiedung durch den Bundestag und den Bundesrat seit dem 26. März 2009 auch rechtsverbindlich für die Bundesrepublik, für die Bundesländer und die Kommunen. Die Konvention fordert in Artikel 24 die Anerkennung des Rechts auf gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung. Kein Kind darf aufgrund von Behinderung aus dem allgemeinen Schulsystem ausgeschlossen werden. Das gilt auch für Kinder mit einer sog. Lernbehinderung. Alle staatlichen Instanzen sind verpflichtet dafür zu sorgen, dass dieses individuelle Recht zur Geltung kommt. Sie haben angemessene Vorkehrungen für den Einzelfall zu treffen, damit der besondere Förderbedarf im allgemeinen Schulsystem erfüllt wird. Die Länder sind verpflichtet, das selektive Schulsystem zu einem inklusiven Schulsystem zu entwickeln. In diesem Zusammenhang sei auf das Rechtsgutachten „Zur Wirkung der internationalen Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung und ihres Fakultativprotokolls auf das deutsche Schulsystem“ von dem Völkerrechtler Prof. Eibe Riedel verwiesen. Er hat es im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen und dem Sozialverband Deutschland (SoVD) angefertigt.
Wie reagiert die Politik? Was hat sich verändert?
Beschämend wenig hat sich in der Mehrzahl der deutschen Bundesländer bislang verändert. Die Schulgesetze sind nur in Bremen und Hamburg angepasst worden. Viele Eltern, insbesondere Migranten, sind immer noch nicht von den Schulbehörden über die Rechte ihres Kindes nach der UN-.Konvention informiert worden. In den meisten Bundesländern wird überlegt, den Eltern zukünftig ein Wahlrecht über den Förderort ihres Kindes einzuräumen. Aber auch dieses Elternrecht hat einen Pferdefuß, muss man doch befürchten, dass es durch Elternberatung wieder eingeschränkt wird. Außerdem wird auf diese Weise das schädliche Sonderschulsystem als Alternative zum gemeinsamen Lernen in der allgemeinen Schule aufrechterhalten und weiterhin gerechtfertigt. Man muss auch annehmen, dass wegen der Finanzierung des teuren Sonderschulsystems die notwendigen Investitionen zur Verbesserung der Förderung im Regelschulsystem ausbleiben.
Die Praxis sieht derzeit so aus, dass Eltern, die mit einer Klage drohen, von der Schulaufsicht einen Platz im allgemeinen Schulsystem angeboten bekommen. Man ist bemüht, gerichtlichen Konflikten aus dem Wege zu gehen aus Angst vor Grundsatzurteilen und auch vor der öffentlichen Meinung. Migranteneltern verfügen meistens aber nicht über die Möglichkeit, sich gegenüber der Schulbehörde so in Position zu setzen. Deshalb ist es besonders wichtig, dass sie z.B. von Migrantenorganisationen informiert, beraten und unterstützt werden.
Die Verfasserin ist auch Autorin der veröffentlichten Dissertation: „Ich schäme mich ja so!“
Die Sonderschule für Lernbehinderte als „Schonraumfalle“ (Bad Heilbrunn 2007).
Sie möchte ihrerseits Migranteneltern publizistisch unterstützen, wenn sie behördlich
daran gehindert oder darin behindert werden, den Rechtsanspruch ihres Kindes
durchzusetzen.
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