Die Gaste, Ausgabe 16 / März-April 2011

Die ganz normale Zweisprachigkeit

[Normal Olan Ýkidilliktir]


Prof. Dr. Hans H. REICH
Universität Koblenz-Landau



    Kinder, die zweisprachig aufwachsen, erwerben ihre Sprachen unterschiedlich gut und unterschiedlich rasch. Wie gut und wie rasch, das hängt davon ab, wie sie diese Sprachen erleben, wie oft sie sie brauchen, wie wichtig ihnen die Men-schen sind, mit denen sie die eine oder die andere Sprache sprechen, und die Themen, über die in der einen und in der anderen Sprache gesprochen wird. Wechseln diese Um-stände, dann verändert sich auch der Spracherwerb und damit das Verhältnis zwischen den Sprachen. Frühkindliche Zweisprachigkeit wird von veränderlichen Umständen geformt, sie ist eine dynamische Kompetenz.
    Fast einhellig wünschen sich Migranteneltern, dass ihre Kinder das Deut-sche und die Sprache der Eltern gleichermaßen gut erwerben. Sie wissen, dass sie, um dieses Ziel zu erreichen, auf die Kommunikationsbereitschaft der Umwelt angewiesen sind, und sie wissen um die Grenzen dessen, was sie selbst dazu tun können. „Die Mutter motiviert die Kinder, Deutsch zu sprechen. Sie sollen miteinander Deutsch reden, deutsche Fernsehsendun-gen sehen.“ – „Weil ich nicht so gut deutsch sprechen kann, ist es schwer, die Kinder in dieser Hinsicht zu fördern. Ich versuche es trotzdem in Türkisch, dass sie Türkisch gut sprechen können. Weil es für mich auch einfacher ist, Türkisch zu sprechen, reden wir zu Hause meis-tens Türkisch, obwohl es für mich auch gut wäre, Deutsch zu sprechen.“ – „Da von draußen oft ein grammatisch falsches Türkisch gesprochen wird, haben wir Angst, dass sie [die Toch-ter] es in Zukunft auch nicht kann. Der Vater konnte früher auch ein besseres Türkisch als jetzt.“ – Das sind nur drei Stimmen von Hunderttausenden.
    Welche Spracherziehungsstrategien die Eltern verfolgen, ist ansatzweise erforscht. Man kann vier Typen unterscheiden: -
    – Typ I: gleichmäßiger Gebrauch beider Sprachen, meist nach be-wusster Absprache, kennzeichnend für bildungsbewusste Familien; -
    – Typ II: (fast) ausschließlicher Gebrauch der (gemeinsamen) Her-kunftssprache, sei es aus bewusster Entscheidung, wenn die Eltern beide Sprachen beherr-schen (Typ IIa), sei es aufgrund ungenügender Deutschkenntnisse der Eltern oder eines Elternteils (Typ IIb); -
    – Typ III: überwiegender Gebrauch der Herkunftssprache neben dem Deutschen, kennzeichnend für die Mehrheit der Migrantenfamilien in Deutschland; -
    – Typ IV: überwiegender Gebrauch des Deutschen neben der Her-kunftssprache, kennzeichnend für Migrantenfamilien mit assimilativer Tendenz.
    Dank einiger Umfragen kann man sich auch ein Bild davon machen, wie sich diese Strategien verteilen. Einer Erhebung des Zentrums für Türkeistudien zufolge spre-chen 56 % der türkischen Väter und 55 % der türkischen Mütter in der Familie vor allem Tür-kisch; die übrigen geben an, in der Familie Türkisch und Deutsch zu sprechen. Bei einem Hamburger Kindergartenprojekt ergab die Befragung der Eltern bei Projektbeginn (als die Kinder etwas über 3 Jahre alt waren), dass in 8 % der Familien nur die Herkunftssprache ge-sprochen wird, in 72 % die Herkunftssprache als Hauptsprache neben unterschiedlichen, aber insgesamt geringeren Deutschanteilen, in 10 % der Familien beide Sprachen gleich oft und in ebenfalls 10 % mehr Deutsch als die Herkunftssprache. Die Kontakte der Kinder mit der deutschen Sprache außerhalb von Familie und Kindergarten variieren in beträchtlichem Maße.
    Der Sprachengebrauch der Eltern und Geschwister, die Deutschkontakte auf dem Spielplatz und in der Nachbarschaft prägen die sprachliche Entwicklung der Kinder. Schon ein Umzug in ein anderes Viertel oder das Hinzukommen eines neuen Familienmit-glieds können zu Umstellungen im Spracherwerb führen. Am meisten aber wirkt sich der Ein-tritt in den Kindergarten aus. (Mit Sicherheit ist auch der Besuch einer Krippe für die Sprach-entwicklung von Kindern aus Migrantenfamilien von erheblicher Bedeutung; es liegen aber noch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu vor. Betrachtet wird daher im Folgenden nur der Sprachenerwerb von Kindern, die zunächst ganz in der Familie aufwachsen und dann mit etwa drei Jahren in den Kindergarten kommen. Es ist noch der Normalfall.)
    Das erste, was festzuhalten ist, ist die große Unterschiedlichkeit der Sprachenkenntnisse, die sich aus den oben skizzierten Umständen des Spracherwerbs in der Familie und ihrem unmittelbaren Umfeld ergibt. Die Kindergärten müssen von Fall zu Fall abwägen, was sie für das Ziel der Zweisprachigkeit tun können. Deutschförderung obliegt ihnen in erster Linie, sie sind aber auch gehalten, den Familiensprachen der zweisprachigen Kinder Wertschätzung und Achtung angedeihen zu lassen. Diese planmäßig zu fördern, fehlen ihnen aber in aller Regel die sprachlichen wie die didaktischen Ressourcen. Nur in Erzie-hungspartnerschaft mit den Eltern kann zweisprachige Erziehung im Kindergartenalter gelin-gen.
    Der häufigste Fall bei Eintritt in den Kindergarten ist ein altersgerechter Stand in der Familiensprache, sicher mit individuellen Unterschieden, aber doch „robust“, d. h. mit der gleichen Sicherheit erworben wie bei einsprachigem Aufwachsen. Die Deutsch-kenntnisse sind sehr viel weniger stabil, sie variieren stärker als die Kenntnisse der Familien-sprache von Kind zu Kind und im Durchschnitt liegen sie deutlich niedriger. Der Umgang mit den gleichaltrigen deutschsprachigen Kindern – Gleichaltrige sind allemal sehr einflussreiche Spracherzieher – und die Deutschförderung der Erzieherinnen bewirken aber, dass das Deut-sche aufholt und nach einiger Zeit das Niveau der Familiensprache erreicht. Das geht nicht von heute auf morgen, auch bei den Vierjährigen ist im Durchschnitt immer noch ein Vor-sprung der Familiensprache vor dem Deutschen festzustellen. Erst nach einem etwa zweijäh-rigen Kindergartenbesuch gleichen sich die Sprachniveaus an. Aus Untersuchungen mit Grundschulkindern weiß man, dass dieser Spracherwerb dann aber auch nachhaltig wirkt.
    Die Familiensprache entwickelt sich in dieser Zeit langsamer. Das ist zunächst einmal eine normale Folge der veränderten Spracherwerbsumstände. Problematisch wird es, wenn die Familiensprache stagniert und das Deutsche nicht über deren Niveau hin-ausgelangt. Die Sprachentwicklung kann in diesem Falle zu einer Erschwerung der gesamten sozialen und kognitiven Entwicklung des Kindes werden. Es ist also ein kritischer Punkt er-reicht, wenn das Deutsche zur Familiensprache aufgeschlossen hat; denn spätestens zu diesem Zeitpunkt bedarf auch die Entwicklung der Familiensprache neuer Impulse, wenn sie nicht auf Dauer hinter dem Deutschen zurückbleiben soll. Ein solcher Rückstand aber wäre nicht nur ein unnötiger Verzicht auf weitere Entwicklungsmöglichkeiten der Familiensprache selbst, er wäre auch für die Entwicklung des Deutschen nicht förderlich. Gemeinsam können sich die beiden Sprachen kräftiger entwickeln. Eine Koordination der häuslichen Spracherziehung und der Sprachbildung im Kindergarten ist also angezeigt: gemeinsam Materialien, zweisprachige Texte , das Hereinholen der Familiensprachen in den Kindergarten durch Ton- und Videoma-terialien, Vorlesezeiten, Reime und Lieder, und durch Erzieherinnen, die selbst zweisprachig sind.
    Was für den Kindergarten gilt, gilt entsprechend für die Grundschule. Deutsch – als Medium des Unterrichts, als primäre Sprache des Schrifterwerbs und als Spra-che der Gleichaltrigen auch in der neuen institutionellen Umgebung – übt eine Sogwirkung auf den Spracherwerb aus. Die Spracherwerbsumstände bürgen dafür, dass die Deutschkennt-nisse in dieser Zeit auf jeden Fall vorankommen. Das ist gesichert, es bedeutet aber nicht, dass das Spracherwerbspotenzial auch voll ausgeschöpft wird. Man weiß, dass – im Durchschnitt – die Deutschkenntnisse der zweisprachigen Kinder in der Grundschulzeit hinter denen der einsprachigen zurückbleiben. Dass manche von ihnen auf einem niedrigeren Niveau starten, dass manche wenig Deutschkontakte in der Freizeit haben, dass manche wenig Erfahrung mit literarischer Kultur besitzen, drückt den Durchschnitt.
    Unsicher ist der Status der Familiensprache in dieser Zeit. Ihre Entwick-lung hängt davon ab, ob altersgemäße kognitive und soziale Herausforderungen auch in dieser Sprache an die Kinder herangetragen werden. Die Familie ist weiterhin wichtig im Leben der Grundschulkinder, es macht darum einen Unterschied für die Sprachentwicklung, wie und worüber zuhause gesprochen wird, ob es gemeinsame Unternehmungen gibt, ob interessanter Lesestoff verfüg bar ist, ob es Kontakte mit interessanten Leuten gibt, die die Familiensprache sprechen, und wie die Ferien im Herkunftsland verlaufen. Aber relativ gesehen, bezogen auf alle Lebensfelder, die sich die Kinder in dieser Zeit ihres Lebens erschließen, nimmt die Be-deutung der Familie doch allmählich ab.
    Zu fragen ist darum unbedingt auch nach der Bedeutung, die die Schule für die Zweisprachigkeit hat. Sie kann die Zweisprachigkeit ignorieren und alle Schülerinnen und Schüler als gleichermaßen deutschsprachig behandeln. Das geschieht; es wird nicht selten mit Prinzipien pädagogischer Gleichbehandlung gerechtfertigt, mag aber auch mit einer ge-wissen Scheu vor den „fremden“ Sprachen zu tun haben. Es gibt aber auch Schulen, die sich auf die Zweisprachigkeit ihrer Schüler und Schülerinnen einlassen. Eine unterstützende Hal-tung, verbunden mit der Öffnung von Zugängen zu den Familiensprachen über Personen, Me-dien und Institutionen kann im Prinzip jede Schule im Rahmen ihres allgemeinen Bildungs- und Erziehungsauftrags realisieren. Eine institutionell herausgehobene Möglichkeit bietet in einigen Ländern der Herkunftssprachliche Unterricht. Leuchttürme sind die bilingualen Klas-sen und Zweige, die es an einigen Standorten gibt und in denen Deutsch und eine Migrantensprache als Unterrichtsmedium dienen.
    Der Herkunftssprachliche Unterricht ist umstritten, vorwiegend aus poli-tischen Gründen. Soweit sein pädagogischer Wert zur Debatte steht, wird aber von keiner Seite bezweifelt, dass er Lernerfolge erzielen kann, die die Elternhäuser allein nicht zu erzielen vermöchten, er leistet damit einen zweifellos wichtigen Beitrag zur sprachlichen Bildung des Einzelnen. Strittig ist die schulische und gesellschaftliche Bewertung von Herkunftssprache und Zweisprachigkeit. Man muss wohl zur Kenntnis nehmen, dass die Leistungen im Herkunftssprachenunterricht für den Schulerfolg insgesamt nicht direkt zu Buche schlagen und auch die Chancen auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt nicht signifikant verbessern. Es sind im Prinzip veränderbare Umstände.
    Dass herkunftssprachliche Bildung eine fördernde Funktion für das Deutschlernen habe, wird oft vorgebracht, ist aber ebenfalls umstritten. Auch hier muss man genauer hinsehen. Anerkannt ist, dass gute Leistungen in der Herkunftssprache und gute Leis-tungen im Deutschen meist Hand in Hand gehen, umstritten ist nur, ob die Herkunftssprache dabei als Ursache, das Deutschlernen als Auswirkung anzusehen ist. Es ist wohl nicht ganz so einfach. Und es kommt – einmal wieder – auf die Umstände an. Eine kürzlich abgeschlossene Evaluation der schriftsprachlichen Entwicklung von türkisch-deutschen Schülerinnen und Schülern an zehn Grundschulen in Köln kommt zu dem Ergebnis, dass eine gegenseitige Ab-stimmung von Deutschunterricht und Türkischunterricht zu den besten Ergebnissen führt, besser als eine ausschließliche Förderung im Deutschen, besser als eine getrennte Unterwei-sung der beiden Sprachen – allerdings nur dann, wenn das Konzept über die Grundschulzeit hinweg konsequent verfolgt wird.
    Zweisprachigkeit ist weder ein schönes Märchen noch eine Geschichte bloßer Unvollkommenheiten. Es kommt auf die Umstände an, was der Einzelne und die Ge-sellschaft daraus machen.