Die Gaste, Ausgabe 17 / Mai-Juli 2011

Bildung und politische Alphabetisierung
Thesen zu Grundlagen eines globalisierungskritischen Bildungsverständnisses


[Eðitim ve Siyasal Alfabeleþtirme]


Prof. Dr. Armin BERNHARD
(Universität Duisburg-Essen)


    Die Aneignung des in der Welt zur Verfügung stehenden Wissens kennzeichnet nur eine Ebene der Bildung, sie ist zunächst nur ein Instrument auf dem Weg zur Herstellung von Gleichberechtigung im Hinblick auf die „Ressource“ Wissen, die in den verschiedenen Kontinenten und Regionen der Welt höchst ungleich verteilt ist. Befreiungspädagogische Ansätze weisen unmissverständlich auf den Umstand hin, dass allein die pure Vermittlung eines umfassenden Wissens noch keine Grundlage für eine emanzipative Bildung der Menschen zu selbstbestimmtem Handeln ist. Wissen wird erst dann zur Bildung, wenn seine Aufbereitung und Zueignung so angelegt ist, dass sie dem Menschen zur Erschließung und Entschlüsselung der grundlegenden Zusammenhänge seiner Welt und damit seiner Selbstermächtigung dient, als geschichtliches Wesen in die bestehende Praxis verändernd einzugreifen.
    1. Die globalisierungskritische Bewegung hat spätestens mit der Resolution des im Rahmen des Weltsozialforums in Porto Alegre organisierten Internationalen Seminars über Bildung (1.-3. 2. 2002) die Frage der Bildung als Frage einer zukunftsfähigen Gesellschaft auf die Tagesordnung gesetzt. Als Antwort auf die schreiend ungerechte Verteilung von Bildung, die durch die neoliberale Politik noch erheblich verschärft wird, klagten die sozialen Bewegungen in diesem Forum Bildung als ein “fundamentales, soziales und universelles Recht der Völker und der Menschen” ein (Internationales Seminar 2002, S. 54). Zum ersten Mal wurde in diesem Dokument der Bereich der Bildung nicht nur als Kampffeld der Globalisierungskritik, sondern auch als grundlegendes Moment humaner, demokratischer, sozial gerechter und ökologisch nachhaltig verträglicher Gesellschaftsentwicklung begriffen

    2. Im Vordergrund der bildungspolitischen Arbeit mondialer sozialer Bewegungen steht bislang, nicht zu Unrecht, die Kritik an der marktkonformen Zurichtung der Bildung und ihrer systematischen Kommerzialisierung, die Bildung immer mehr zur Ware verkommen lässt. Insbesondere die neuen Tendenzen hin zur Liberalisierung und Privatisierung der Bildung gehen in Richtung einer immer stärkeren Kommerzialisierung von Bildung und würdigen Bildung zu einer umkämpften Ware herab, die nicht mehr grundlegend auf die Qualität der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen bezogen werden kann, obwohl dieser über Bildung erst sich seine Welt erschließen und damit eine eigene Persönlichkeit entfalten kann. Diese humanistische Perspektive der Bildung wird von der gegenwärtigen Bildungstechnokratie ad absurdum geführt, sie öffnet die Schleusen für deren umfassende Ökonomisierung. In der Realisierung des GATS-Abkommens im Bildungsbereich könnte der Versuch der Verwarenförmigung von Bildung universell Gestalt annehmen.

    3. Die Kritik an den bestehenden Verhältnissen in einem sich globalisierenden Kapitalismus bleibt Herzstück einer Bewegung, die den Kampf gegen die ungerechten wirtschaftlichen Grundbedingungen auf dem blauen Planeten aufgenommen hat. Ihre philosophischethische Realutopie ist die von Jean Ziegler umrissene „planetarische Zivilgesellschaft“, in deren Rahmen alle Menschen „ihre innersten Wünsche frei und kollektiv, in der Autonomie ihrer persönlichen Sehnsüchte und in der Solidarität ihrer Koexistenz mit anderen“ äußern können (Ziegler 2003, S. 17). Zugleich ist die globalisierungskritische Bewegung mit der keimhaften Entwicklung von Alternativen über den Horizont der reinen Kritik bereits hinausgeschritten. Im Hinblick auf die Bildungsfrage ist die Auseinandersetzung mit den Privatisierungsplänen zu den avanciertesten Projekten zu zählen, die Konfrontation mit den Think tanks des Neoliberalismus hinsichtlich Bildung bleibt eine elementare Aufgabe. Was fehlt ist die Entwicklung einer Diskussion dessen, was unter dem Begriff der Bildung im Kontext einer gegenhegemonialen Praxis zu verstehen ist, in welche Perspektive Bildung zu rücken ist, und in welcher Weise sich ein globalisierungskritischer Bildungsbegriff strukturell und konzeptionell auf bildungspolitische Planungen auswirkte.

    4. Ein tiefgreifendes Verständnis von Bildung zu entwickeln, das die technokratische Definition sogenannter “Bildungsstandards” weit hinter sich lässt, muss zu einem zentralen Projekt der Globalisierungskritik werden. Ein neu gefasstes Bildungsverständnis darf jedoch seine geschichtlichen Traditionen nicht ignorieren, die im klassischen Bildungsbegriff kulminierten. Das idealistische bürgerliche Bildungsverständnis, das alle Dimensionen der Persönlichkeitsentfaltung mit Blick auf individuelle wie kollektive Mündigkeit enthält, ist in den politischen Kampf um eine grundlegende Erneuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu integrieren. Es geht darum, das historische Konzept der bürgerlichen Bildung vor dem Hintergrund neuer gesellschaftlicher Anforderungen und Herausforderungen aufzuheben und für den Kampf um eine planetarische Zivilgesellschaft zu reformulieren. Zum ersten Mal in der Geschichte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft wird es möglich, den spezifisch deutschen Bildungsbegriff zu entnationalisieren und ihn in eine erdumspannende Bewegung einzubinden.

    5. Die Verschaffung eines Zugangs zum Weltwissen für alle (siehe: Le Monde diplomatique 2003), wie es auch die UNESCO fordert, muss sicherlich eine zentrale Intention der Organisationen und Bewegungen gegen Neoliberalismus und wirtschaftliche Globalisierung sein, doch reicht diese Forderung nicht hin, um eine Bildung zu bestimmen, die die Akteurinnen und Akteure instand setzt, weltgesellschaftliche Strukturen in emanzipativer, demokratischer, ökologischer Perspektive experimentierend aufzubauen. Die Aneignung des in der Welt zur Verfügung stehenden Wissens kennzeichnet nur eine Ebene der Bildung, sie ist zunächst nur ein Instrument auf dem Weg zur Herstellung von Gleichberechtigung im Hinblick auf die „Ressource“ Wissen, die in den verschiedenen Kontinenten und Regionen der Welt höchst ungleich verteilt ist. Befreiungspädagogische Ansätze weisen unmissverständlich auf den Umstand hin, dass allein die pure Vermittlung eines umfassenden Wissens noch keine Grundlage für eine emanzipative Bildung der Menschen zu selbstbestimmtem Handeln ist. Wissen wird erst dann zur Bildung, wenn seine Aufbereitung und Zueignung so angelegt ist, dass sie dem Menschen zur Erschließung und Entschlüsselung der grundlegenden Zusammenhänge seiner Welt und damit seiner Selbstermächtigung dient, als geschichtliches Wesen in die bestehende Praxis verändernd einzugreifen.

    6. Unabhängig von den jeweils besonderen Lebensbedingungen der Menschen in den verschiedenen Kontinenten, Ländern, Regionen wird eine tiefgreifende politische Alphabetisierung im Zentrum der Bildungsbemühungen stehen müssen, die den jeweils besonderen Bedingungen der gesellschaftlichen Situation Rechnung tragen muss. Das Ziel einer politischen Alphabetisierung gilt insofern für alle, als die erdumspannenden Kulturindustrien mit ihren Ideologien und ästhetisch verpackten Botschaften fast jeden Winkel der Erde erreichen können, bis in die favelas hinein das Bewusstsein der Menschen mit ihrem geistigen fast food massiv beeinflussen können. Die Mobilisierung der sinnlich-ästhetischen Entwicklungspotentiale im Sinne der Entfaltung eines unverstellten Wahrnehmungsvermögens der Menschen muss notwendiger Bestandteil von Bildung sein, die auf individuelle und kollektive Mündigkeit zielt. Ohne die Freilegung dieser Entwicklungspotentiale kann sich kritisches Bewusstsein heute nicht mehr bilden.

    7. Bildung ist geistige Selbstverfügung der Menschen über ihre gesellschaftlichen Lebensbedingungen, sie ist ein Instrument des Widerstands gegen Fremdbestimmung und deren Legitimation. Sie muss einerseits dazu befähigen, die Probleme der eigenen Lebenswelt benennen und identifizieren zu können. In dieser Hinsicht ist der Pol der Lebenswelt als Ausgangspunkt der Bildung fundamental. Andererseits sollen die zukünftigen Akteurinnen und Akteure ihre Lebenssituation im Kontext der gesellschaftlich-historischen Verursachungszusammenhänge begreifen lernen, um lokales und globales Handeln miteinander zu verbinden zu können. Dieser den Mikrokosmos der unmittelbaren Lebensbedingungen bestimmende Pol weltgesellschaftlicher Strukturen setzt grundlegende Distanz zu den Verstrickungen in die eigene Lebenspraxis voraus, ein Grundgedanke, der konstitutiv in einen globalisierungskritischen Begriff der Bildung eingehen muss, um einem bloßen Aktionismus vorzubeugen.

    8. Eine Demokratisierung der Bildung ist nur insofern realisierbar, als eine produktive, widerspruchsreiche Wechselwirkung von Bildung und Selbstbildung initiiert werden kann: Bildung ist eine Revolution im Kleinen, soweit sie das zweifelnde Denken entzünden kann, das Ausdruck lebendiger Mündigkeit ist. Einerseits basiert Bildung auf der Vermittlung grundlegender Wissensarsenale, eine Aufgabe, die der Bildungsinstitution aufgrund ihrer gesellschaftlich exponierten Position exklusiv zukommt. Andererseits ist Bildung immer auch ein Vorgang der Selbstbildung, ein Vorgang, der spontan erfolgen kann, der allerdings mit der systematischen Vermittlung curricular festgesetzter Bildungsinhalte korrespondiert. Wie fremdbestimmte Vermittlung und Selbstbildung in ein zündendes Verhältnis gesetzt werden können wird zu einer grundlegenden Frage demokratischer Bildungspolitik. Ein anspruchsvoller Bildungsvorgang muss in einem Rahmen erfolgen, in dem Erfahrungen, systematische Bildungsprozesse und Bildungsanlässe in eine explosive Konstellation gebracht werden können. In den informellen Bildungsvorgängen der mondialen globalisierungskritischen Bewegung besteht prinzipiell die Möglichkeit, Bildung als Ferment der Auflösung einer scheinbar ehernen Hegemonie in Gang zu setzen. Dieses Potential ist mit Blick auf die ausgebluteten staatlichen Bildungsinstitutionen zu nutzen.

    Bildung ist eine Kraft eigener Art, die mit Blick auf die Initiierung neuer Denk- und Hand-lungsweisen nicht zu unterschätzen ist. Soll die als alternativlos präsentierte Leitidee purer Liberalisierung aller gesellschaftlicher Beziehungsverhältnisse, Grundbaustein der kulturellen Hegemonie des Neoliberalismus, dauerhaft „entkräftet“ werden, muss Bildung auf allen institutionellen und informellen Ebenen neu überdacht werden. Wenn die globalisierungskritische Bewegung die Ausstrahlungkraft ihrer Kritik, aber auch ihrer Erneuerungspotentiale gegen die geistige Vorherrschaft neoliberaler Vorstellungen tiefgreifend mobilisieren will, benötigt sie Bildung, die das zweifelnde Denken in Kraft setzt. Denn nur in der Allianz mit diesem können soziale Bewegungen erfolgreich ihre antihegemonialen Kräfte entwickeln, den „Geist des Bruchs“ (Gramsci 1993, S. 1052) erzeugen, der die Basis für eine Rundumerneuerung der Gesellschaft bildet.

    Lit.:
    Alphabetisierung und Weltwissen, in: Le Monde diplomatique: Atlas der Globalisierung, Berlin 2003, S.66-67
    Gramsci, A.: Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe Band 5, Hamburg 1993
    Internationales Seminar über Bildung: Eine andere Welt und eine andere Bildung sind möglich und notwendig, in: Zukunftswerkstatt Schule, Jg. 12, 2002, H. 2, S. 53-37
    Ziegler, J.: Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher, München 2003 (9. Auflage)