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Die Gaste, Ausgabe 19 / November-Dezember 2011
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Inklusion Herausforderungen, Widersprüche und Perspektiven
[Ýçselleme (Inklusion) Görevler, Çeliþkiler ve Bakýþ Açýlarý]
Prof. Dr. Rolf WERNING [Hannover Üniversitesi Felsefe Fakültesi Dekaný]
Einleitung
Inklusion ist zurzeit im pädagogischen Bereich ein zentrales Thema. Ausgelöst durch die seit März 2008 in Kraft getretene UN Behindertenrechtskonvention erhält die Frage nach der gemeinsamen Beschulung möglichst aller Kinder und Jugendlicher in einer Schule für alle wieder mehr Aufmerksamkeit. In Artikel 24 heißt es dort: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht von Menschen mit Behinderung auf Bildung an. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen.“ (vgl. United Nations 2006) Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, was die Forderung eines inklusiven Bildungssystems für das deutsche Schulsystem bedeutet. Dazu soll zunächst einmal der Begriff der Inklusion genauer betrachtet werden. Anschließend werden die Herausforderungen, die möglichen Überforderungen und die innovativen Perspektiven einer solchen Entwicklung von Schule skizziert.
Was bedeutet Inklusion?
Inklusion ist ein diffuser Begriff. Gehört zur Inklusion schon die Kooperation zwischen einer Grundschule und einer Förderschule in Form von Kooperationsklassen? Ist die integrative Beschulung von einem hörgeschädigten Kind in einer Realschulklasse „Inklusion“? Und was ist eigentlich der Unterschied zwischen Integration und Inklusion? Die Antworten auf diese Fragen fallen nicht leicht, da Anspruch und Wirklichkeit einer inklusiven Pädagogik bis heute weit auseinander fallen.
Kommen wir zunächst zum Anspruch:
Inklusion beschreibt die Vision einer Schule ohne Aussonderung und ohne Diskriminierung. Jeder Schüler, jeder Schülerin ist mit seiner individuellen Persönlichkeit, seinen Stärken und Schwächen, seiner kulturellen, nationalen, sozialen, religiösen Herkunft willkommen. Kein Kind, kein Jugendlicher muss befürchten, ausgeschlossen zu werden (vgl. Ainscow u.a. 2006, MacKay 2006). Inklusive Pädagogik umfasst die Veränderung der Schulkultur
• durch die Verbesserung des Zugangs aller Schüler zu einer Schule für alle;
• durch die Förderung und Verbesserung der Akzeptanz aller Schüler durch die Lehrkräfte;
• durch die Maximierung und Optimierung der sozialen Teilhabe aller Schüler am Unterricht und am Schulleben;
• durch die Entwicklungs- und Leistungsförderung aller Schülerinnen und Schüler
(vgl. Artiles u.a. 2006, 67).
Die britischen Autoren Ainscow u.a. (2006, S. 14ff.) haben international sechs unterschiedliche Inklusionsvorstellungen beschrieben und machen deutlich, dass die Ausrichtung des Inklusionsverständnisses nicht an der Begriffsunterscheidung Integration versus Inklusion hängt. Als ersten Bedeutungsrahmen stellen sie Inklusion als Konzept zur gemeinsamen Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen vor. Inklusion ist auf die Schüler/innen ausgerichtet, die bisher in Sonderschulen unterrichtet werden bzw. wurden (vgl. auch Bunch/Persaud 2003). Ainscow u.a. (2006, S. 15f.) weisen kritisch darauf hin, dass die Fokussierung auf Kinder und Jugendliche mit Behinderungen viele andere Aspekte von Verschiedenheit ignoriert, die die Bildungspartizipation von Schüler/innen behindern oder fördern können. Dazu gehören Ausgrenzungen bzw. Benachteiligungen z.B. auf Grund von Geschlecht, sozialer Herkunft, spezifischen Lebensbedingungen und/oder Kultur (vgl. auch MacKay 2006a).
Ein weiterer Aspekt von Inklusion ist die institutionelle Entwicklung einer Schule für Alle. Damit rückt eine systemische Betrachtungsweise in den Vordergrund: Wie müssen Schulen beschaffen sein, damit alle Kinder und Jugendliche aufgenommen werden? Die Frage der Inklusion und Exklusion wird nicht an den Schüler/innen, sondern an der Institution festgemacht. Es wird die Idee einer Schule angesprochen, die keinen Menschen ausschließt und bemüht ist, allen Personen die Möglichkeit der vollen sozialen Teilhabe am gemeinsamen Leben zu geben (vgl. Feyerer/Prammer 2003, S. 15). Beispiele für die Entwicklung von Schulen für alle Kinder und Jugendliche finden sich in der Gesamtschulbewegung, der ‚common school’ in den USA, den Gemeindeschulen in England, der ,Folkeskole‘ in Dänemark, etc. Inklusion kann aber auch über die Schule hinaus als gesellschaftliche Wertegrundlage verstanden werden.
Ainscow u.a. (2006, S. 25) sehen eine inklusive Perspektive in enger Verbindung mit übergreifenden gesellschaftlichen Werten: „We articulate inclusive values as concerned with equity, participation, community, compassion, respect for diversity, sustainability and entitlement“ (2006, 23). Sie formulieren daraus abgeleitet eine umfassende Perspektive von inklusiven Schulen: „Inclusion is concerned with all children and young people in schools, it is focused on presence, participation and achievement; inclusion and exclusion are linked together such that inclusion involves the active combating of exclusion; and inclusion is seen as a never-ending process. Thus an inclusive school is one that is on the move, rather than one that has reached a perfect state” (ebd.).
Deutlich wird an der hier nachgezeichneten Diskussion, dass inklusive Bildung eine enge, allein an Platzierungs- und Förderungsfragen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen orientierte Sichtweise zu überwinden versucht und sich mit der grundlegenden Frage nach dem Umgang mit Verschiedenheit im schulischen Kontext auseinandersetzt. Die Fragen, die dabei aufgeworfen werden, richten sich auf die Prozesse der Inkludierung bzw. der Exkludierung von Schülergruppen allgemein.
Kommen wir nun zur schulischen Wirklichkeit in Deutschland:
Das deutsche Schulsystem ist geprägt durch die Fiktion von homogenen Lerngruppen (vgl. Tillmann 2007, 32). Soziale und kulturelle Herkunft bestimmen maßgeblich den Schulerfolg (vgl. Werning, Löser & Urban 2008). Schwächere Schüler werden vom Schulbesuch zurückgestellt. Wer dann in der Schule nicht mitkommt bleibt sitzen, muss die Schule wechseln oder kommt auf die Förderschule (vgl. Werning/Löser 2010). Davon sind insbesondere sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche und solche mit Migrationshintergrund betroffen. 2008 wurden lediglich 18,4% der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Regelschulen unterrichtet. Auch zwischen den Schulformen gibt es erhebliche Unterschiede in wie fern sie sich gegenüber Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf öffnen. Während an Grundschulen 60% aller sogenannten Integrationsschüler beschult werden, sind es an Gymnasien nur 1,7% (KMK 2008, eigene Berechnungen).
Das deutsche Schulsystem ist auf dem Konstrukt der homogenen Lerngruppe aufgebaut. Dies wird auch erfolgreich praktiziert: „Im internationalen Vergleich gibt es kaum leistungshomogenere Sekundarschulen als in Deutschland.“ (Deutsches PISA-Konsortium 2001, 454).
Heterogene Lerngruppen sind lernförderlich
Es zeigt sich in vielen Studien, dass heterogene Lerngruppen positive Effekte auf das Lernen haben. Gerade lernschwächere Schülerinnen und Schüler profitieren von dem Anregungspotential. Die Ergebnisse von Integrationsversuchen weisen ferner darauf hin, dass – gerade um die Entwicklung der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler nicht zu beeinträchtigen - ein besonderes Augenmerk auf die Zusammensetzung von integrativen Lerngruppen zu richten ist. Wichtig ist, dass in solchen Lerngruppen genügend leistungsstarke Schülerinnen und Schüler einbezogen werden, um eine Ausdünnung der Gruppe der Leistungsstarken zu vermeiden. Heterogenität zielt nicht auf eine Nivellierung der Leistungen, sondern setzt auf die konsequente Förderung der individuellen Lern- und Leistungspotentiale. Um Heterogenität positiv zu nutzen sind stabile Lerngruppen mit einer hinreichend großen Zahl leistungsstarker Schülerinnen und Schüler notwendig. Heterogenität in pädagogischen Kontexten wirkt dann positiv, wenn hierdurch keine kumulativ wirkenden Problemkonstellationen entstehen – wie dies in manchen Hauptschulklassen (vgl. Schümer 2004) und an sehr vielen Förderschulklassen (Förderschwerpunkt Lernen) der Fall ist (vgl. Wocken 2000).
Aus Untersuchungen zum entdeckenden und kooperativen Lernen in heterogenen Gruppen kann ferner geschlossen werden, dass Schülerinnen und Schüler mit umfangreicherem Vorwissen als Unterstützer für schwächere Schülerinnen und Schüler wirken. Die schwächeren Schülerinnen und Schüler lernen von den stärkeren und stärkere Schülerinnen und Schüler lernen durch die notwendige Umstrukturierung ihres Wissens, um angemessene Unterstützung geben zu können. Heterogene Gruppen sind somit sowohl für schwächere wie für stärkere Schülerinnen und Schüler förderlich (vgl. Gijlers & De Jong, 2005, S. 280).
Widersprüche und Hindernisse
Eine Erschwernis für inklusive Entwicklungen besteht im Spannungsverhältnis zu einem anderen zentralen Diskurs im Bildungswesen: National wie international findet in den letzten Jahren eine Umstellung der Input- zur Outcome-Steuerung und der damit verbundenen „Tendenz zu stärkerer Lenkung und Kontrolle der Qualitätsentwicklung in Schulsystemen“ (Klieme 2004, 625) statt.
Natürlich sollen in einem ausdifferenzierten Bildungssystem die Ergebnisse dieses Systems kontrolliert werden – vor allem die Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler erwerben sollen. Es ist auch sinnvoll, dass die einzelnen Schulen und Lehrer eine Rückmeldung über die Ergebnisse ihrer Arbeit bekommen.
Problematisch wird es dann, wenn man Bildungsstandards als die zentralen Werte eines Bildungssystems ansieht. Englische Kollegen, die schon längere Erfahrungen mit Bildungsstandards und ihren Auswirkungen auf das Bildungssystem haben, kritisieren in ihrem Manifest „Equity in Education“: „However, these measures have come to be treated as the most valuable outcomes of education and this, in turn, has undermined equity“ (Centre for Equity in Education at The University of Manchester, 2010, S. 5). Eine solche Überbewertung von Bildungsstandards, Vergleichsarbeiten und zunehmende Testungen führt zu einer Schulkultur, die mit inklusiven Werten im Widerspruch steht. So schreiben Ainscow u.a. (2006, S. 12): „On the face of it, inclusion and the standard agenda are in conflict because they imply different views of what makes an improved school, different ways of thinking about achievements and different routes for raising them.”
Auch Heinrich (2010, 129) weist darauf hin, dass durch die zunehmende ‚empirische Verobjektivierung’ der Leistungen in Schule die kriteriale und die soziale Bezugsnorm immer bedeutsamer werden, wohingegen die individuelle Bezugsnorm vernachlässigt oder vergessen wird. Dies führt seiner Meinung nach zu einer Entpädgogisierung des Bildungsprozesses.
Ferner wird die inklusive Bildung speziell in Deutschland insbesondere in der Sek. I erheblich erschwert, da hier – anders als in vielen anderen entwickelten Industrienationen – kein ausgebautes Gesamtschulsystem existiert. Nicht ohne Grund sind die best-praktice-Modelle inklusiver Bildung und Erziehung im Grundschulbereich (hier existiert ein Gesamtschulsystem) oder an integrierten Gesamtschulen zu finden.
Der Graben zwischen inklusiven Schulen und der bundesdeutschen Realität ist somit enorm. Es kommt hinzu, dass von verantwortlichen Bildungspolitikern sehr unterschiedliche bis widersprüchliche Signale kommen. Deshalb überrascht es nicht, wenn schon kleine Versuche mehr Heterogenität in Schule zuzulassen als inklusiv bezeichnet werden. Hierzu zählt, wenn einzelne Schüler mit besonderem Förderbedarf in Regelklassen beschult werden oder wenn Förderschulen mit Regelschulen kooperieren. Von wirklicher Inklusion, von Schulen für alle Kinder, sind wir noch sehr weit entfernt. Die beschriebene Situation macht auch deutlich, dass Lehrkräfte, die mehr Vielfallt in ihren Schulen zulassen wollen, häufig auf Hindernisse und Widerstand stoßen. Die einzelne Lehrkraft ist dann oft völlig überfordert, wenn sie versucht in einem auf Homogenisierung und Selektion ausgerichteten Schulsystem Inklusion umzusetzen. Inklusion ist eine pädagogische Herausforderung auf höchstem Niveau. Dass dies auch in Deutschland gelingen kann, zeigen einzelne Schulen, die sich auf den Weg gemacht haben. Deutlich wird dabei, dass Inklusion ein Schulentwicklungsprozess ist, der viele Ebenen umfasst. Als zentral haben sich dabei die Ebene der Kooperation von Lehrkräften und die Ebene des Unterrichts herausgestellt. Dies soll zum Abschluss konkretisiert werden.
Perspektiven für eine inklusive Beschulung
Inklusion ist eine normative, eine moralische Entscheidung. Sie ist zunächst eine Frage des politischen Wollens und nicht der pädagogischen Machbarkeit (vgl. Muth 1994). Inklusion fängt in den Köpfen (und Herzen) der Eltern, der Bildungspolitiker/innen, der Lehrkräfte, der Schüler/innen an. Um Inklusion in pädagogischen Kontexten zu realisieren, braucht es zunächst einmal eine Vision. Senge (1996, S. 18) schreibt, dass eine Organisation auf Dauer nicht erfolgreich sein kann, wenn es keine gemeinsamen Ziele und Wertvorstellungen gibt. Eine Schule, in der die Lehrkräfte – aber auch die Eltern und Schüler nicht eine zumindest in größeren Bereichen geteilte gemeinsame Auffassung bezüglich der inklusiven Förderung von Schüler/innen vertreten, wird sich in ständigen Auseinandersetzungen befinden. Deshalb ist es notwendig, durch gezielte Fortbildungen für Lehrpersonen und Schulleitungen eine „Kultur der Inklusion“ zu entwickeln. So kommt Dyson nach einem systematischen Forschungsüberblick zu inklusiven Schulen (vgl. Dyson/Howes/Roberts 2002, 2004) zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung inklusiver Ansätze eng mit der Entwicklung einer bewusst inklusiven Schulkultur verbunden ist. Zu ihren Merkmalen gehörte die Anerkennung und Würdigung von Heterogenität, die Bereitstellung von Bildungsangeboten für tatsächlich alle Schülerinnen und Schüler, eine starke Zusammenarbeit im Kollegium und die Förderung der Zusammenarbeit zwischen Schülerinnen, Schulpersonal und Eltern. Gleichzeitig macht er anhand weiterer Studien deutlich (vgl. Dyson 2010, 118ff.), dass Prozesse hin zu mehr Inklusivität auch an ganz normalen Schulen stattfanden. Dies zeigte sich dann, wenn sich Lehrkräfte mit den konkreten Bedingungen der Schüler an ihrer Schule auseinander setzten und Werte verfolgten wie „das Beste für alle SchülerInnen zu wollen“. Beispiele hierfür waren Kollegien, die überlegten, wie sie Kinder mit Lernschwierigkeiten aus segregierten Unterrichtsgruppen in den gemeinsamen Unterricht zurückholen konnten, oder Schulen, die Modelle des kooperativen Gruppenunterrichts mit heterogenen Lerngruppen einführten, etc.
Kooperation als Dimension erfolgreicher inklusiver Schulen
Inklusive Schulen sind durch kooperative Strukturen nach innen und nach außen gekennzeichnet. Nach innen erfordert Inklusive Bildung die Zusammenarbeit von Regelschullehrkräften mit anderen Expert/innen. In inklusiven Schulen arbeiten Teams auf Klassen- oder Jahrgangsebene zusammen. Die Verantwortung für die Förderung aller Schüler liegt bei allen Lehrkräften. Kanada verdeutlicht dies: Die Mehrzahl der Schulen in Kanada verfügen neben den regulären Lehrpersonen auch über weiteres Fachpersonal, z.B. Sonderpädagog/innen, Zweitsprachlehrkräfte, Integrationshelfer/innen und Unterrichtsassistent/innen, die in Teams organisiert sind. Lehrkräfte haben so die Möglichkeit, sich kompetente Unterstützung zu holen (vgl. Löser 2009). Es ist herauszustellen, dass inklusive Schulen nicht ohne sonderpädagogische Kompetenz funktionieren. Zugleich ist zu betonen, dass durch die (professionsübergreifende) Teamarbeit die Verantwortung für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht nur beim Sonderpädagogen/bei der Sonderpädagogin liegt, sondern bei allen Lehrkräften und Mitarbeiter/innen einer Schule. Die Chance von Kooperation liegt in der Erweiterung professioneller Kompetenzen und Handlungsfähigkeiten sowie in der Überwindung der Rolle der Lehrkraft als „Einzelkämpfer/in“. Darüber eröffnen sich vielfältige Lern- und Anregungsmöglichkeiten bei der alltäglichen Bewältigung der Aufgabe, alle Schüler/innen auf ihrem jeweiligen Entwicklungsstand zu fördern, Förderpläne zu erstellen und zu reflektieren, Lernprozesse in der Lerngruppe anzuregen und zu unterstützen. In Deutschland fällt die Kooperation bis heute schwer. In unserer Untersuchung zur Kooperation zwischen Grundschullehrerinnen und Grundschullehrern und Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen im Gemeinsamen Unterricht in Niedersachsen zeigte sich, dass nur an wenigen integrativen Schulen produktive Formen der Zusammenarbeit umgesetzt wurden (vgl. Werning et al. 2001; Lütje-Klose et al. 2005). Es zeigte sich aber auch, dass dort, wo die Entwicklung kooperativer Strukturen als Aufgabe der Schulentwicklung bzw. als übergreifende Aufgabe der Modellentwicklung angesehen und bearbeitet wurde, gut funktionierende und wegweisende Ansätze entstanden. Gleichzeitig gibt es Schulen, die Inklusion bisher nicht als Aufgabe der Schulentwicklung sehen und je nach Kooperationswilligkeit oder –fähigkeit der beteiligten Grund- und SonderpädagogInnen sehr unterschiedliche Ansätze praktizieren.
Unterricht als Dreh- und Angelpunkt für inklusive Bildung
Wenn inklusive Pädagogik gelingen soll, dann ist der Unterricht der Dreh- und Angelpunkt. Heterogenität in Lerngruppen allein bringt nicht automatisch eine Qualitätsverbesserung des Unterrichts mit sich. Vielmehr stellt Heterogenität eine didaktische Herausforderung dar, wie mit der Vielfalt der Schüler/innen umgegangen werden kann. Konsens besteht darüber, dass bei allen didaktischen Überlegungen zum inklusiven Unterricht innere Differenzierung zentral ist (vgl. Werning 2006). Verschiedene didaktische Konzepte sind entsprechend entwickelt worden (vgl. dazu Werning/Lütje-Klose 2006). Ein elaboriertes Konzept zum Unterricht mit heterogenen Lerngruppen liegt durch das Modell des Kooperativen Lernens vor (vgl. Avci-Werning, 2007).
An deutschen Schulen wurde u.a. der didaktische Ansatz des Kooperativen Gruppenunterrichts empirisch erforscht und insbesondere für heterogene Lerngruppen als sinnvoll herausgestellt. Kooperativer Gruppenunterricht geht weit über normale Gruppenarbeit hinaus. Die Lerngruppe wird dabei in mehrere bewusst heterogen zusammengesetzte Kleingruppen aufgeteilt, die über einen längeren Zeitraum zusammenarbeiten. Die Arbeitsaufgaben werden so gestellt, dass alle Gruppenmitglieder bei der Bearbeitung aufeinander angewiesen sind (positive Interdependenz) und nur gemeinsam eine Lösung entwickeln können. Bei der sogenannten „task-specialisation“ befasst sich zum Beispiel jedes Gruppenmitglied mit einem Teilbereich des Themas und wird hier zum Experten. In einem weiteren Schritt werden die Teilergebnisse in der Gruppe zusammengetragen und in Bezug auf die Aufgabenstellung zusammengeführt und diskutiert. Am Schluss steht die gemeinsame Präsentation der Gruppenarbeit (Avci-Werning 2004, S. 96ff).
Heterogene Lerngruppen sind dabei zentraler und fester Bestandteil des kooperativen Lernens. Über kooperative Lernformen können Lehrpersonen an den jeweiligen Stärken der einzelnen Kinder ansetzen. Die kanadischen Autoren Green und Green (2009) schlagen in Bezug auf den Unterricht in heterogenen Lerngruppen vor, viel Raum für Schüleraktivität zu ermöglichen und die Lehrerzentrierung zu reduzieren. Sie beschreiben den Prozess, wie Schulen ihren Unterricht kooperativer gestalten können – um darüber der Heterogenität der Schüler/innen gerecht zu werden. Auch unterstreichen sie die Relevanz dieser Lernform: „Kooperatives Lernen bindet Lernende in einen aktiven, schülerzentrierten Lernprozess ein, der Problemlösungs- und Weiterbildungsstrategien entwickelt, die nötig sind, um die Herausforderungen des Lebens und des beruflichen Weiterkommens in unserer zunehmend komplexen Welt zu bewältigen“ (Green/Green, 2009, S. 32). In Kanada wurde 1996 die Schulbehörde Durham Board of Education mit dem Bertelsmannspreis für „Innovative Schulsysteme im internationalen Vergleich“ ausgezeichnet. Ein wichtiger Bestandteil dieser Schulbehörde ist die schulübergreifende Orientierung an Formen des Kooperativen Lernens (vgl. Green/Green 2009). Das besondere ist, dass Schulentwicklung unter der Perspektive vorangetrieben wird, Verbesserungen im Klassenraum (z.B. Unterrichtstrategien) und in der Schule (z.B. gemeinsame Visionen kollegial entwickeln) vorzunehmen (vgl. ebd., S. 27). Die Methode des kooperativen Lernens ist damit besonders anschlussfähig für inklusive Schulen.
Literatur:
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