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(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)
ISSN 2194-2668


Die Gaste, Ausgabe 22 / Mai-Juli 2012

Das Erste InterKulturBarometer Deutschland
Kulturpolitische Anmerkungen zu einer Studie und zu einem Symposium

[Almanya’da Ýlk Kültürlerarasý Barometre]


Prof. Dr. Wolfgang SCHNEIDER
(Universität Hildesheim)


    Es muss schon ein besonderes Ereignis sein, wenn gleich zwei Ministerinnen einem Symposium an einer Universität die Ehre erweisen. Die repräsentierten Fachressorts erschließen allerdings die Relevanz: Kultur und Integration, zwei Arbeitsfelder, mit denen sich die Wissenschaften auseinander zu setzen haben, beispielhaft an einem Projekt demonstriert, am Ersten InterKulturBarometer Deutschland.

    Die Studie ist am Zentrum für Kulturforschung erarbeitet worden, am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim findet die akademische Begleitung statt. Es geht um die Interpretation, um die Bewertung und um den Diskurs, es geht um Konsequenzen für den Kulturbetrieb und die Kulturpolitik. Das passt ganz gut zum Forschungsprofil der kleinen niedersächsischen Hochschule: In Hildesheim fokussieren die Kulturwissenschaften auf die Künste, wird Kulturmanagement und Kulturelle Bildung gelehrt sowie zu Auswärtiger Kulturpolitik geforscht. In diesem Zusammenhang wurde Anfang April diesen Jahres auf einem Symposium über kulturelle Teilhabe, künstlerische Interessen und kulturpolitische Perspektiven diskutiert.

    Ziel des InterKulturBarometers war es, erstmals verlässliche Zahlen über die kulturellen und künstlerischen Prozesse einer durch Migration beeinflussten Gesellschaft sowie die kulturelle Partizipation und Identität der Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des Faktors Migration zu liefern: Singen wir in Deutschland nunmehr auch türkische Lieder, wie wir Falafel und Döner in unsere Speisekarte integriert haben? Hört die erste Migrantengeneration die Lieder des Herkunftslandes, die zweite Generation deutsche Lieder und die dritte Rock und Pop aus dem angloamerikanischen Raum? Bei der Beantwortung der Fragen galt es mit Blick auf die Ergebnisse der Sinus-Migranten-Milieu-Studie (Heidelberg 2007) immer auch kritisch zu prüfen, ob bei den empirischen Befunden der Faktor Migration oder andere Faktoren, wie Bildung oder Alter, eine entscheidendere Rolle spielen. Welche neuen empirischen Erkenntnisse wurden nun bundesweit durch das InterKulturBarometer zu diesem Themenfeld gewonnen?

    Kulturelle Partizipation als Schlüsselfaktor

    Das InterKulturBarometer ist eine wissenschaftliche Studie des Bundes und der Länder Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, die erstmals die kulturelle Identität und Teilhabe von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund untersucht. Ziel ist dabei, ein empirisch fundiertes Bild über die kulturellen und künstlerischen Prozesse in der heutigen Gesellschaft zu gewinnen. Bei der vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien geförderten gemeinsamen Untersuchung wurden in ganz Deutschland seit August letzten Jahres 2.500 Menschen ab einem Alter von 14 Jahren befragt. Die vom Zentrum für Kulturforschung aus Bonn erarbeitete Studie beinhaltet einen Schwerpunkt mit 550 Befragten in Niedersachsen.

    „Kulturelle Partizipation ist ein wichtiger Schlüsselfaktor für die gesellschaftliche Integration, der bislang unterschätzt wurde“, betont die niedersächsische Kulturministerin Professor Dr. Johanna Wanka ein wichtiges Ergebnis der Untersuchung und sagt weiter: „Es hat sich gezeigt, dass Migrationserfahrungen und die aktuelle Lebenssituation dann als sehr positiv empfunden werden, wenn eine tatsächliche Teilnahme am kulturellen Geschehen der Region stattfindet.“

    Insbesondere die migrantische Bevölkerung vertritt einen eher breiten Kulturbegriff, der das menschliche Miteinander und das Alltagsleben mit einbezieht. Insgesamt haben die Bevölkerungsgruppen mit und ohne Migrationshintergrund ein nahezu identisches Bild vom aktuellen Kulturleben in Deutschland. Speziell die junge migrantische Bevölkerung ist in ihrer Freizeit anteilig stärker künstlerisch-kreativ tätig. Insgesamt wird jedoch das migrantische Publikum noch nicht ausreichend vom öffentlich geförderten Kulturleben erreicht. Mit dem Herkunftsland werden vor allem emotional besetzte gesellschaftliche Themenfelder wie die Bedeutung der Familie, kulinarische Traditionen oder die Kulturgeschichte verbunden. Die positive Bewertung der Kulturgeschichte des Herkunftslandes zieht sich bis in die dritte Migrantengeneration, während die anderen Themenfelder tendenziell verblassen. Daraus lässt sich schließen, dass eine positive Beziehung zur Kulturgeschichte eines Landes wichtig für die emotionale Verbundenheit mit diesem ist. Die Vertrautheit mit der Kulturgeschichte von Aufnahme und Herkunftsland sowie das Gefühl, an dieser teilzuhaben, können den Integrationsprozess nachhaltig positiv beeinflussen. Kultureinrichtungen sollten daher gezielt vor allem die kulturinteressierte dritte Generation ansprechen.

    Die Notwendigkeit von Kulturvermittlung

    Um migrantische Zielgruppen stärker in die bestehende kulturelle Infrastruktur einzubinden, ist eine intensivere Ansprache des sozialen Umfeldes eine wichtige Voraussetzung. Dabei gilt es auch zu berücksichtigen, dass die Multiplikatoren innerhalb des sozialen Umfeldes in Abhängigkeit vom Herkunftsland unterschiedlich gewichtet sind. Während die deutschstämmige Bevölkerung die Nichtteilhabe am Kulturleben auf ihr persönliches Desinteresse zurückführt, geben migrantische Zielgruppen fehlende Freizeitpartner und Begleitpersonen aus dem Umfeld als Ursache an. Die Befragten sprechen sich mit und ohne Migrationshintergrund für mehr Kulturbesuche sowie die vermehrte Einbindung von Künstlern und Kunst aus den Migrantenherkunftsländern aus. Speziell die migrantische Bevölkerung betont die Notwendigkeit von mehr Kultur- und Vermittlungsangeboten in der Sprache der Herkunftsländer. Vor allem Migranten der ersten Generation sowie Bevölkerungsgruppen mit russischem und türkischem Migrationshintergrund teilen diese Ansicht.

    „Ich gehe sehr ungern ins Theater“, schreibt der 17-jährige Mourad R. dem Forum Freies Theater Düsseldorf. Warum er nicht gerne ins Theater geht, kann man im dritten Band einer Brief-Edition unter dem Titel „Absagen ans Theater“ (April 2012) lesen: „… ich habe Besseres und vor allem Wichtigeres zu tun“. Theater ist für ihn wie für viele andere Schüler „eine nervende Pflichtveranstaltung“. Die jüngste Studie des Zentrums für Kulturforschung belegt das eindrucksvoll. Vor allem Menschen mit Migrationshintergrund fühlen sich von den Darstellenden Künsten nicht angesprochen. Das InterKulturBarometer stellt fest: „Anteilig weniger offen ist die migrantische Bevölkerungsgruppe vor allem für Theateraufführungen, was insbesondere auch für die dritte Generation gilt.“

    Anscheinend hat unsere viel gerühmte Theaterlandschaft nicht angemessen auf Zuwanderung reagiert und kulturelle Vielfalt nicht entsprechend auf der Agenda. Dabei bezeichnen sich doch insbesondere die Stadt- und Staatstheater gerne als Spiegel der Gesellschaft. In unserem Kulturstaat ist das Schauspiel aber ziemlich deutsch geblieben. Nicht nur das Publikum entspricht nicht der bunten Republik, auch im Personal und in den Produktionen ist das Theater wenig multiethnisch.

    Die großen Bühnen hätten es versäumt, die interkulturelle Wirklichkeit auch im eigenen Betrieb abzubilden, kritisiert zum Beispiel der türkischstämmige Regisseur Nurkan Erpulat, der am Berliner Ballhaus Naunynstraße das postmigrantische Theater behauptet. In der gleichen dpa-Umfrage vom 22. März 2012 konstatiert der Direktor des Deutschen Bühnenvereins Anstrengungen; denn die Intendantengruppe mache sich Gedanken und viele Ensembles begäben sich in die Stadt, oft an ganz ungewöhnliche Spielorte: „Kurzum: Der Wille, etwas zu tun, ist groß, Erfolge sind aber nicht leicht zu erzielen.“ Ulrich Khuon vom Deutschen Theater in der Hauptstadt könnte sich sogar eine Quote oder die Selbstverpflichtung der Branche vorstellen. „Im Grunde braucht es solche Instrumente, weil Institutionen sich nur mühsam von selbst ändern.“

    Das kulturelle Leben auf Augenhöhe mit den klassischen Künsten

    Was muss ich ändern; ja, ein Muss; aber wer muss? Wer ist die Kulturpolitik? Oder müssen wir jetzt schon von einer Kulturenpolitik sprechen? Welche Kulturen, welcher Kulturbegriff? Die Künste alleine zu betrachten ist in Kenntnis des Institutionalisierungsgrades und der öffentlichen Fördersummen gerechtfertigt. Aber die Studie belegt, es geht nicht nur um Angebot und Nachfrage, um Produktion und Publikum, um Kulturmarketing und Audience Development. Der Blick wendet sich, von den klassischen Künsten zum kulturellen Leben, inklusive Traditionskultur, Volkskultur, Popkultur.

    Der Blick weitet sich auf die Breitenkultur, ein Phänomen, das bisher kulturpolitisch eher links oder rechts liegen geblieben ist und das durch die Migrationsforschung zu Tage gefördert wurde, obwohl sie ohne öffentliche Kulturförderung konstituiert ist. Teilhabe als emotionales Erlebnis, Eigenkreativität als künstlerische Ausdrucksform, die Stunde der Laien und Amateure scheint geschlagen zu haben. Für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, für Menschen mit und ohne Bildungshintergrund. Elternhaus und Schule seien entscheidende Multiplikatoren, heißt es in der Studie. Was heißt das für kulturelle Bildungsangebote und Kulturbesuche, z. B. im Kindergarten?

    Drei Markierungen sind uns kulturpolitisch mit auf den Weg gegeben:

    Erstens: Den Kulturbegriff definieren!

    Zweitens: Die Kulturteilhabe ermöglichen!

    Drittens: Die Kulturförderung reformieren!

    Das sind die Essentials, die Konsequenzen wären zu konkretisieren, Fragen der Interkulturalität und der Internationalität zu klären, ebenso Fragen an Kulturelle Bildung und Kulturvermittlung, sowie Fragen an Hochkultur und Breitenkultur.

    Nach der Studie ist vor einem Kulturentwicklungskonzept, im Bund, in den Ländern, vor allem in den Kommunen. Da wären die wahren Weichen zu stellen. Impulse kommen vom InterKulturBarometer.

    Vielleicht ist es zu optimistisch zu sagen: Nichts in der Kulturpolitik wird mehr so sein können, wie zuvor, wenn wir das, was uns jetzt empirisch mitgeteilt wurde, ernst nehmen. Eine Debatte um eine Neuorientierung in unserer Kulturlandschaft ist überfällig. Die Gestaltungswünsche der Bevölkerung zur kulturellen Praxis müssen ebenso eine zentrale Rolle in der Gesellschaftspolitik spielen, wie auch die Wahrnehmungen des kulturellen Angebots durch die Schulen als Beitrag zur Integration.