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(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)
ISSN 2194-2668


Die Gaste, Ausgabe 24 / November-Dezember 2012

Die inklusive Schule
eine Antwort auf Bildungsbenachteiligung von Migranten?
[Ýçselleyici Okul Göçmenlerin Eðitsel Maðduriyetlerine Bir Çözüm mü?]

Prof. Dr. Michael FINGERLE
(Johann Wolfgang Goethe-Universität - Fachbereich Erziehungswissenschaften Institut für Sonderpädagogik)



Traditionell ging die Diagnose einer Lernbehinderung in Deutschland mit der Überweisung an eine Förderschule einher, doch seit langem führten die damit verbundene „Absonderung“ dieser Kinder sowie die Probleme mit dem Übergang in den Arbeitsmarkt und der gesellschaftlichen Teilhabe zu der aus der Förderpädagogik selbst stammenden Forderung nach Integration, bzw. im aktuellen Duktus, nach Inklusion.

    Im Gefolge der ersten PISA-Studie hielt das Thema Ungleichheit wieder Einzug in die deutsche Bildungsdebatte. Seither weisen die Studien zur Lage des deutschen Schulsystems mit unschöner Regelmäßigkeit auf Benachteiligungseffekte für Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status hin. Der mit diesen Befunden im Raum stehende Vorwurf, dass deutsche Schulen ihre Bewertungen und Schullaufbahnempfehlungen nicht allein nach Leistung und Begabung vornähmen, ist umso brisanter, als Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund mit einem höheren Risiko leben, in diesem Spiel um Bildungschancen zu verlieren.

    Der aktuelle Bildungsbericht weist für das Schulbesuchsjahr 2010/2011 nach, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf, die integrativ (d.h. an Regelschulen) beschult werden, seit einigen Jahren stetig zunimmt. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen gesunken sei. Tatsächlich stieg die gesamte Förderquote – sowohl die Zahl der integrativ, als auch die Zahl der an Förderschulen beschulten Schülerinnen und Schüler. Diese Förderquote schwankt zwischen den einzelnen Bundesländern zwischen 4,7 und 10,9 Prozent. Es gibt hier große regionale Unterschiede, doch das Bild ist insgesamt konsistent. Da nun Sprachprobleme neben Geistiger Behinderung und sozial-emotionalen Problemen zu den häufigsten Gründen für die Feststellung eines speziellen Förderbedarfs gehören, ist es nicht weiter verwunderlich, dass für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund das relative Risiko, auf eine Förderschule überwiesen zu werden, nach wie vor hoch ist, sogar höher als für Schülerinnen und Schüler ohne Migrationshintergrund. Dieses Problem bestand, wie eine Studie von Diefenbach () nachwies, noch in den 90iger Jahren und scheint immer noch zu bestehen. Jüngst wurde in einer aktuellen Studie für Rheinland-Pfalz nachgewiesen, dass hier das aktuelle Risiko für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, eine Förderbedarfsdiagnose zu erhalten, 1,46 höher ist als für SchülerInnen ohne Migrationshintergrund und dass ein 1,37-fach höheres Risiko besteht, eine Förderschule zu besuchen (Kemper, 2012). Angesichts des Umstands, dass ein Förderschulabschluss die Chancen auf dem Arbeitsmarkt alles andere als sichert, kann man dies sehr wohl als ein gravierendes Problem des deutschen Schulwesens bezeichnen. Die Ursachen für dieses Ungleichgewicht sind vielfältig und reichen von Vorurteilen auf Seiten des Lehrpersonals bis zu Ressourcenproblemen von Schulen, die mit den Bedürfnissen von Schülerinnen und Schülern mit niedrigem Bildungshintergrund und geringen Deutschkenntnissen überfordert sind. Diese Gemengelage zeichnete sich bereits vor einigen Jahren in einer zumindest in Fachkreisen sehr bekannt gewordenen Studie von Gomolla und Radtke (2002) ab und ich möchte auf sie hinweisen, weil sie auch für die schulischen Reformen, die zur Zeit angedacht und auf den Weg gebracht werden, zum Stolperstein werden könnte.

    In der Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund kommen neben Vorurteilen gegen „Ausländer“ auch Faktoren zum Tragen, die nicht in erster Linie mit dem Migrationsstatus an sich zusammen hängen, sondern eine Schnittmenge zu dem generellen Problem einer an die soziale Herkunft gekoppelten Bildungsbenachteiligung aufweisen, das für das deutsche Schulsystem bereits in den sechziger Jahren diagnostiziert wurde. Speziell für die Überweisung an eine Förderschule (früher als Sonderschulen bezeichnet) spielt hier der Begriff der „Lernbehinderung“ eine zentrale Rolle (Kottmann, 2006). Dieses Konzept ist verhältnismäßig vage definiert, denn es bezieht sich auf das Ausmaß der Lernrückstände eines Schülers und/oder auf mangelnde kognitive Basiskompetenzen wie Intelligenz und Aufmerksamkeit. Sowohl für Lernrückstände wie auch für die angesprochenen Kompetenzmängel kann es eine ganze Reihe unterschiedlichster Ursachen geben, die sich gegenseitig beeinflussen können. Wie bei einer derart unscharfen Kategorie nicht anders zu erwarten, kann keineswegs davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei – wie der Begriff „Behinderung“ eigentlich sprachlich nahelegt – generell um eine stabile Persönlichkeitseigenschaft handelt. Letztlich bedeutet die Feststellung von großen Lernrückständen (mit oder ohne Basiskompetenzmängel) nur, dass solche Schülerinnen und Schüler intensivere und individuell zugeschnittene pädagogische Betreuung, sowie mehr Zeit brauchen um ihre Potentiale zu entwickeln. Für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund ist der Kernbehinderungsbegriff insofern prekär, als dass Schülerinnen und Schüler mit geringen Deutschkenntnissen und einem bildungsfernen Hintergrund natürlich eher Gefahr laufen, in der Schule so stark zurückzufallen, dass sie die diagnostischen Kriterien erfüllen.

    Traditionell ging die Diagnose einer Lernbehinderung in Deutschland mit der Überweisung an eine Förderschule einher, doch seit langem führten die damit verbundene „Absonderung“ dieser Kinder sowie die Probleme mit dem Übergang in den Arbeitsmarkt und der gesellschaftlichen Teilhabe zu der aus der Förderpädagogik selbst stammenden Forderung nach Integration, bzw. im aktuellen Duktus, nach Inklusion.

    Inklusion wird in der öffentlichen Wahrnehmung wohl in erster Linie mit den Konzepten geistiger oder körperlicher Behinderung verbunden – nicht zuletzt, weil in der entsprechenden UN-Konvention explizit die Rede von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung ist (vgl. Katzenbach & Schnell, 2012). Wollte man diesen Inklusionsbegriff unreflektiert auf Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund anwenden, so geriete man buchstäblich in eine Begriffsfalle, denn es wäre nötig, eine Behinderungsdiagnose zu vergeben, um das damit verbundene Recht auf inklusive Bildung in Anspruch nehmen zu können. In einer paradoxen anmutenden Weiterführung der Verhältnisse wäre somit die angesprochene, hochproblematische Diagnosepraxis legitimiert, wenn auch vielleicht die Überweisung an eine Sonderschule abgeschafft wäre. In der Fachdiskussion geht der Inklusionsbegriff jedoch über den Wortlaut der UN-Konvention hinaus. Inklusion, entwickelt weniger als Gegenentwurf, eher als Ablösung und Ausweitung des Integrationsbegriffs, geht von einer prinzipiellen Heterogenität der Schülerschaft aus, der mit geeigneten pädagogischen Angeboten und nicht mit einer schulischen Selektion begegnet werden soll. Damit ist eigentlich auch gemeint, dass die nötigen pädagogischen Ressourcen nicht erst über den Umweg der diagnostischen Feststellung eines besonderen Förderbedarfs angefordert werden müssen. Es wäre also nicht mehr nötig, eine „Behinderung“ zu diagnostizieren, wenn lediglich Lern- oder Entwicklungsrückstände vorliegen, die prinzipiell bearbeitbar oder sogar behebbar sind, aber mehr pädagogischen Ressourcen benötigen. In diesem Sinne formuliert Inklusion einen Rechtsanspruch für die Betroffenen und nicht lediglich eine Art gesellschaftlichen Entgegenkommens oder eine rein moralische Verpflichtung. Die damit verbundenen Herausforderungen für die Bildungsinstitutionen sind allerdings enorm. Bereits die Selbstverpflichtung Deutschlands, die UN-Konvention umzusetzen, mag zu einer ähnlich peinlichen Niederlage führen wie die Selbstverpflichtung, für jedes Kind einen Kita-Platz bereitzustellen. Nimmt man die gesamte Bandbreite der Heterogenität (und damit z. B. auch den Migrationsstatus) in den Blick, nimmt man die Idee einer Schule für Alle ernst, so hat dies massive Konsequenzen für die nötigen pädagogischen Ressourcen.

    Eine wesentliche Rolle spielen Sprachförderangebote. Baumert und Maaz (2012) wiesen unlängst darauf hin, dass die Kompetenzen in der Verkehrsprache das größte Hindernis für die Bildungskarrieren von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund darstellen, während die Bildungsmotivation unter den in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund im allgemeinen stark ausgeprägt ist. Es mag an dieser Stelle der Hinweis gestattet sein, dass die erwähnte sonderpädagogische Diagnosepraxis nicht zuletzt auch durch den Umstand befördert wurde, dass Sprachförderangebote an deutschen Schulen lange Zeit eine Seltenheit waren und nur sehr wenige Lehrerinnen und Lehrer über die nötigen Kompetenzen verfügten.

    Die institutionelle Diskriminierung entsprang daher auch der inneren Logik eines Schulsystems, das für die Anforderungen von Vielsprachigkeit und kultureller Differenzen nicht gerüstet war. Wäre das deutsche Schulsystem in diesem Punkten besser ausgestattet gewesen, so wären diese Förderschulquoten wohl nie entstanden. Dieses Problem ist in gewisser Weise gravierender, als wenn es bei der Bildungsbenachteiligung ausschließlich um vorurteilsmotivierte Prozesse ginge. Denn wenn einer Schule die personellen und materiellen Ressourcen fehlen, um mit besonderen pädagogischen Bedarfen angemessen umgehen zu können, werden Selektionsstrategien auch dann als Option im Raum stehen, wenn gar keine Vorurteile gegenüber den Betroffenen bestehen. Es bleibt abzuwarten, ob sich angesichts der Finanzlage der öffentlichen Haushalte die Situation an den Schulen tatsächlich verbessern wird.


   
    Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2012). Bildung in Deutschland 2012. Bielefeld.
    Baumert, J. / Maaz, K. (2012). Migration und Bildung in Deutschland. Die Deutsche Schule, 104(3), 279-302.
    Diefenbach, H. (2007). Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien im deutschen Bildungssystem. Wiesbaden.
    Gomolla, M. / Radtke, F.-O. (2002). Institutionelle Diskriminierung. Opladen.
    Katzenbach, D. / Schnell, I. (2012). Strukturelle Voraussetzungen inklusiver Bildung. In: Moser, V. (Hrsg.): Die inklusive Schule. Stuttgart.
    Kemper, T. (2012). Untersuchungen zum Schulerfolg von Migranten mit sonderpädagogischem Förderbedarf bei separierter und integrierter Beschulung in Rheinland-Pfalz. Zeitschrift für Heil- pädagogik, 63(9), 360-389.
    Kottmann, B. (2006). Selektion in die Sonderschule. Bad Heilbrunn.