Warum gibt es so viele Kinder mit Migrationsgeschichte, die in deutsche Förderschulen wechseln? Und warum unterscheiden sich die Migrantengruppen so deutlich? Dass Bilingualität das entscheidende Problem ist, kann man fast ausschließen. Denn es gibt inzwischen einige Studien, die belegen, dass die Leistungsunterschiede zwischen monolingualen und bilingualen Kindern verschwinden, wenn die soziale Herkunft kontrolliert wird, also z. B. wenn man die bilingualen Kinder aus armen Familien nur mit monolingualen Kindern aus Familien vergleicht, die ebenfalls arm sind.
Ein Skandal, das geht eigentlich so: Ein aufmerksamer Zeitgenosse entdeckt einen Missstand. Er macht ihn publik. Es entsteht einige Aufregung. Und am Ende der Geschichte werden die Dinge geregelt, meistens mehr oder weniger vernünftig.
Dass es einen Missstand in deutschen Sonderschulen gibt, ist lange bekannt. Denn deutsche Förderschulen haben viele Kinder mit Migrationsgeschichte, viel zu viele. Seit Jahrzehnten weisen Forscher wie z. B. Reimer Kornmann darauf hin, dass die hohen Migrantenquoten ein Problem sind. Aber: Die Aufregung darüber hält sich in engen Grenzen. Warum nur bleiben die Betroffenen so ruhig?
An den Zahlen liegt es sicher nicht. In Nordrhein-Westfalen, dem
größten Bundesland Deutschlands, besuchen z. B. im letzten Schuljahr 4,2 % der Schüler mit Migrationsgeschichte eine Förderschule, aber nur 1,2 % der Schüler ohne Migrationsgeschichte. Verwendet man die Staatsbürgerschaft als Auswahlkriterium und vergleicht die fünf häufigsten Nationalitäten, so lassen sich sehr deutliche Unterschiede auch innerhalb der Schüler mit Migrationshintergrund feststellen. Den Spitzenwert mit geradezu irrwitzigen 13,2 % Förderschülern belegen Schüler mit serbischer Staatsbürgerschaft. Auf Platz zwei liegen zur Zeit die polnischen Schüler mit immer noch sehr bedenklichen 3,9 %, dicht gefolgt von türkischen Schülern mit 2,9 %. Italienische Schüler kommen mit 1,3 % auf Werte, die denen der deutschen Schülern ähneln. Griechische Schüler wechseln sogar deutlich seltener in eine Förderschule als ihre deutschen Altersgenossen (0,5 %).
Warum gibt es so viele Kinder mit Migrationsgeschichte, die in deutsche Förderschulen wechseln? Und warum unterscheiden sich die Migrantengruppen so deutlich? Dass Bilingualität das entscheidende Problem ist, kann man fast ausschließen. Denn es gibt inzwischen einige Studien, die belegen, dass die Leistungsunterschiede zwischen monolingualen und bilingualen Kindern verschwinden, wenn die soziale Herkunft kontrolliert wird, also z. B. wenn man die bilingualen Kinder aus armen Familien nur mit monolingualen Kindern aus Familien vergleicht, die ebenfalls arm sind.
Nein, die hohen Förderschulquoten von Migrantenkindern in Deutschland haben andere Ursachen. Man muss zunächst wissen, dass sich Sonderschulquoten in Europa sehr deutlich unterscheiden. Wer behindert ist, und was man unter einer Behinderung zu verstehen hat, diese Fragen beantworten unterschiedlichen Staaten sehr unterschiedlich. Und so gibt es Staaten mit niedrigen Sonderschulquoten (z. B. Schweden) und Staaten mit hohen Sonderschulquoten (z. B.: Finnland, Belgien und eben auch: Deutschland). Viele Kinder, die in deutschen Schulen als „behindert“ gelten, gelten anderswo demnach als nicht behindert. Es handelt sich dabei ganz offensichtlich nicht um Kinder mit Körperbehinderungen oder blinde Kinder. Die Kategorie, die für hohe Sonderschulquoten in Deutschland sorgt, nennt sich vielmehr „Lernbehinderung“. Der neuere Fachbegriff lautet: sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich Lernen. Gemeint sind Kinder vor allem mit Problemen im Lesen und Schreiben. Und man weiß ziemlich genau: Diese Kinder stammen häufig aus armen Familien.
Nun sind bilinguale Kinder in Deutschland häufig Kinder aus armen Familien. Einen ersten Grund für die erschreckenden Zahlen kann man also in der sozialen Lage von Familien mit Migrationsgeschichte suchen. Bilinguale Kinder wechseln in Deutschland demnach u.a. deshalb so häufig in die Förderschule Lernen, weil sich in Deutschland ein Sonderschultyp etabliert hat, der auf Kinder aus armen Familien spezialisiert ist, und Familien mit Migrationsgeschichte so häufig in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen leben.
Das alles wäre ja noch in Ordnung, wenn Förderschulen besonders geeignet wären, diesen Kindern zu helfen. Die Befunde der einschlägigen Übersichtsarbeiten sind allerdings nicht besonders ermutigend. Schüler der Förderschule Lernen schneiden in den meisten Studien schlechter ab als Integrationsschüler. Alle schlechten Schüler in einer Schule zusammenzufassen, ist keine gute Idee. Die meisten deutschen Eltern meiden deshalb die Förderschulen. Sie wissen zudem ganz genau, dass ein Abgangszeugnis Förderschule auf dem Arbeitsmarkt nichts wert ist.
Warum stimmen dann aber Eltern mit Migrationshintergrund einer Sonderschulüberweisung so häufig zu? Ein Erklärungsansatz wäre: Viele Migranteneltern glauben den Lehrern einfach die Geschichte von den guten Sonderschulen, den kleinen Klassen und den besonders spezialisierten Förderschullehrern. Sie können sich nicht richtig zur Wehr setzen. Und sie wissen vielleicht auch nicht, dass es in den Beratungsgesprächen manchmal ziemlich unfair zugeht.
Sonderschulen sind teuer. Die Klassen sind klein. Sonderschullehrer werden etwas besser bezahlt. Und das verursacht ein Verwaltungsproblem, zumindest in Deutschland. Wenn es eine teure Lösung gibt und eine billige Lösung, dann kann man sich zumindest nicht ohne Begründung für die teure Lösung entscheiden. Die deutsche Lösung für das Problem ist ein Verwaltungsverfahren. Und in diesem Verwaltungsverfahren dokumentieren die Beteiligten, dass eine Behinderung vorliegt, die sonderpädagogische Förderung notwendig macht. Wer nachweisen will, dass eine Lernbehinderung vorliegt, benötigt hierzu üblicherweise einen Intelligenztest und zumindest einen Lese/Rechtschreibtest. Das alles klingt nach einem sinnvollen, nach einem objektiven Verwaltungsvorgehen. Ein genauerer Blick auf den diagnostischen Alltag zeigt aber ziemlich schnell, dass insbesondere dann von Objektivität nur noch selten die Rede sein kann, wenn bilinguale Kinder getestet werden.
Wo genau liegen die Probleme? Ein erster wichtiger Punkt ist die Frage, ob die eingesetzten Testverfahren überhaupt geeignet sind, Aussagen über bilinguale Kinder zu machen. Bei Lese/Rechtschreibtests ist das auch für Laien auf den ersten Blick einsichtig. Wer bilinguale Kinder mit Verfahren testet, die ausschließlich für monolinguale Kinder entwickelt wurden, arbeitet unseriös. Denn es besteht überhaupt kein vernünftiger Zweifel daran, dass man Kinder, die z. B. bis zu ihrer Einschulung vor allem in einer nicht deutschsprachigen Umgebung aufgewachsen sind, nicht ohne weiteres mit Kindern vergleichen darf, die von ihren ersten Lebenstagen an die deutsche Sprache lernen konnten.
Die Argumentation für Intelligenztests ist etwas komplizierter. Die meisten Zeitgenossen glauben: Intelligenztests sind Verfahren, die objektive Aussagen über die intellektuelle Leistungsfähigkeit von Menschen erlauben. Sie glauben, dass Menschen ihre intellektuellen Gaben in die Wiege gelegt bekommen. Und sie glauben, dass es unerheblich ist, welcher Intelligenztest zum Einsatz kommt. Die neuere Intelligenzforschung zeigt aber mit beeindruckender Klarheit: All diese Vermutungen sind leider falsch. Die kulturvergleichende IQ-Forschung ermittelt z. B. ganz erhebliche mittlere IQ-Unterschiede zwischen einzelnen Nationen. Weite Teile der Weltbevölkerung erreichen dabei IQ-Werte, die etwa in Deutschland bestenfalls für eine Sonderschullaufbahn qualifizieren. Einfach strukturierte Gemüter mögen hierin einen Beweis für die Überlegenheit westlicher Zivilisationen sehen. Viel wahrscheinlicher ist aber die Interpretation, dass Intelligenztests so konstruiert sind, dass Menschen mit nicht westlicher Herkunft schlecht abschneiden.
Zweites Problem: Es gibt zwar sicher so etwas wie eine genetische Basis intellektueller Fertigkeiten. Aber vermutlich legt diese Basis nur sehr grob fest, in welchen Grenzen die später entwickelten Kompetenzen schwanken können. Der IQ kann sich also im Lebensverlauf durchaus verändern. Und neuere Befunde zeigen: Zu bedeutsamen Schwankungen kommt es u.a. im Umfeld der Einschulung, insbesondere bei Kindern aus armen Familien. Drittes Problem: Unterschiedliche Intelligenztests können sehr unterschiedliche Ergebnisse ermitteln. Die kulturvergleichende IQ Forschung ermittelt zwischen dem in Sonderschulüberweisungsverfahren noch immer weit verbreiteten Kaufmann Intelligenz-Test für Kinder (K-ABC) und dem Cultur Fair Test (CFT) Unterschiede von mehr als 13 IQ Punkten. Man muss dazu wissen: Der traditionell für die Diagnose Lernbehinderung reservierte IQ Bereich beträgt gerade einmal 15 Punkte (IQ 70 bis IQ 85). 13 IQ Punkte entscheiden also sehr häufig darüber, ob Kindern sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich Lernen attestiert wird, oder nicht.
Gutachter haben also einen ganz erheblichen Einfluss auf die Ergebnisse. Sie können Rechtschreibtests verwenden, die keine Normen für bilinguale Kinder haben. Sie können sich entscheiden, IQ-Tests einzusetzen, die Kinder aus anderen Kulturen benachteiligen (den K-ABC z. B., oder auch den HAWIK). Damit steht ein dritter Erklärungsansatz für die hohen Sonderschulquoten bei bilingualen Schülern zur Verfügung. Kinder mit Migrationshintergrund sind demnach auch deshalb in deutschen Förderschulen überrepräsentiert, weil in den Verfahren zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs unfaire, d. h. für bilinguale Kinder nicht geeignete Verfahren eingesetzt werden.
Missstände gibt es also genug. Die Zutaten: Ein Schulsystem, in dem sich eine Behinderungskategorie etabliert hat, die bereits im europäischen Vergleich mehr als unkonventionell ist. Sonderschulen, die nicht besonders hilfreich sind, und von der deutschen Bevölkerung inzwischen offenbar mit guten Gründen gemieden werden. Lehrer, die in der diagnostischen Arbeit mit bilingualen Kindern unfaire Verfahren einsetzen. Ein Skandal? Man wird sehen, ob sich jemand um die Missstände kümmern will. Gelegenheit hierzu gibt es gerade jetzt. Das Schulgesetz in NRW wird zur Zeit überarbeitet, denn internationale Abkommen (die UN Behindertenrechtskonvention) machen es notwendig, auch in Deutschland die Sonderschulquoten zu senken. Ob hiervon auch Familien mit Migrationsgeschichte profitieren werden?
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