Wie eine Studie des Sachverständigenrates Migration (2012) in Berlin gezeigt hat, ist die elterliche Grundschulwahl stark bestimmt von der Frage, ob die Grundschule überwiegend von migrantischen Kindern besucht wird oder nicht. Lautet die Antwort „Ja“, so werden Strategien bis hin zur Ummeldung des Wohnortes ohne Umzug eingesetzt, um das eigene Kind an einer anderen Schule anzumelden. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Anwesenheit migrantischer Schüler_innen den Lernerfolg bremse und gegen die Qualität der Schule spreche.
Heterogenität ist Alltag, so auch im Bildungssystem und in weiteren pädagogischen Einrichtungen. „Vielfalt“ ist aber nicht nur ein Reigen von neben einander koexistierenden Differenzen, die man wahrnehmen kann oder auch nicht, sondern diese Differenzen sind häufig hierarchisch aufgeladen, mit Bewertungen verbunden, werden zu sozialen, ökonomischen und kulturellen Ungleichheiten und führen damit zu ungleichen Chancen in der Gesellschaft. Ich möchte dies am Beispiel des Bildungssystems näher ausführen um dann auf Folgen für und Reaktionen von Jugendlichen einzugehen.
Medien oder Politik erklären Bildungsungleichheit häufig - wider besseren Wissens - durch angeblich mangelnde Bildungsaspiration migrantischer Eltern oder als „Sprachproblem“ oder auch allgemein als (kulturelles) Versagen der Migrant_innen selbst. Dabei sind die ins Bildungssystem eingelassenen Chancen auf Bildung sehr ungleich verteilt. Die Wirkmacht institutioneller Diskriminierung von Kindern mit Migrationshintergrund haben Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke schon 2002 systematisch analysiert. Seither lassen sich zwar einige Verbesserungen der Lage aufzeigen, die grundsätzliche Tendenz und zentrale Problemfelder sind jedoch gebliebenen: Eine ungleiche Verteilung migrantischer und nicht-migrantischer Kinder über die verschiedenen Schultypen. Migrantinnen und Migranten sind an Hauptschulen überrepräsentiert und an Gymnasien weit unter ihrem Anteil vertreten. Die Dreigliedrigkeit produziert und reproduziert Ungleichheit auf der Grundlage von migrantischer Herkunft und Klassenherkunft und wird zum Bestandteil sozialer Ausgrenzung. Auch 2012 noch kommt Stefan Wellgraf in seiner Studie über Hauptschulen zu dem Schluss, dass das Schulsystem Selektionsmechanismen institutionalisiert, Ungleichheit reproduziert und diese durch die von ihm verliehenen Bildungstitel legitimiert. Damit werden gesellschaftlich konstruierte soziale Hierarchisierungen zu individuellen Leistungsmerkmalen gemacht, mit allen Folgen für spätere berufliche und soziale Biografien (vgl. Wellgraf 2012: 96f). Im gesellschaftlichen Diskurs beißt sich die Katze in den Schwanz: Bildungsferne führt zum Verbleib oder zur Ankunft in der Unterschicht oder die Unterschichtsherkunft führt dazu, dass Menschen bildungsfern sind. Klassen bilden oder erhalten sich vorrangig über Bildungsferne oder -nähe.
Nicht für alle Gesellschaftsmitglieder ist dies von Nachteil, im Gegenteil. Die Ausgrenzungsmechanismen sichern die als „Erbrecht“ betrachteten Plätze für die Kinder und Jugendlichen der (häufig weißen, nicht-migrantischen) Mittel- und Oberschicht. Diese trägt oft aktiv zum Erhalt der hegemonialen Verhältnisse bei. Wie eine Studie des Sachverständigenrates Migration (2012) in Berlin gezeigt hat, ist die elterliche Grundschulwahl stark bestimmt von der Frage, ob die Grundschule überwiegend von migrantischen Kindern besucht wird oder nicht. Lautet die Antwort „Ja“, so werden Strategien bis hin zur Ummeldung des Wohnortes ohne Umzug eingesetzt, um das eigene Kind an einer anderen Schule anzumelden. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Anwesenheit migrantischer Schüler_innen den Lernerfolg bremse und gegen die Qualität der Schule spreche. So kommt es, dass diese „versteckten Segregationsbemühungen“ in bestimmten Bezirken dafür sorgen, dass sich die Heterogenität der Bewohner_innen nicht in der Zusammensetzung der Schüler_innenschaft spiegelt. Angesichts der häufig ohnehin stark segregierter Stadtteile in Kategorien von Migration und Klasse, ist dies ein weiterer Bestandteil eines Entmischungsprozesses.
Die Herkunft aus einem bestimmten Stadtteil, arm zu sein und häufig der Migrationshintergrund „übertönen“ als Linien der Ungleichheit andere Differenzen. Es zeigen sich Grenzen der Wahrnehmung von Vielfalt, und zugleich wird deutlich, dass nicht jede Differenz einfach akzeptiert werden kann, wie z.B. Armut. Der Umgang mit Heterogenität ist nicht nur in der Schule, sondern auch in nonformalen (Bildungs-)Einrichtungen ein Thema: In den offenen Einrichtungen für Jugendliche, den Jugendzentren, kann man im Hinblick auf den Umgang mit Jugendlichen feststellen, dass Jugendliche aufgrund benachteiligender Verhältnisse häufig entsubjektiviert werden und vielfältige Unterschiede der Personen und Persönlichkeiten kaum noch wahrgenommen werden. Zur Veranschaulichung sei eine Sozialarbeiterin eines konfessionellen Jugendhauses mit heterogener Besucher_innenschaft zitiert. Sie spricht über einen Teil ihrer Besucherinnen aus einem benachteiligten Quartier, darunter viele Migrant_innen: „Denen fehlen so Basisgeschichten. Das macht die halt sehr unsicher und das macht es ihnen ganz schwer, was zu finden, was zukunftstragend ist. Ich erleb die auch in der Schule als völlig unmotiviert, ja, kein Ziel vor Augen, auch nicht das Wissen, dass Bildung wichtig ist, so bisschen so ne Mentalität von ‚was weiß ich was morgen kommt’ und ‚ich habe eh keine Chance’.“
Die benachteiligenden Verhältnisse, die Klassenverhältnisse als Hauptdifferenzkategorie dienen auch der Bewertung von Persönlichkeiten; es geht um Identitäten, die mit dem Klassenhintergrund verknüpft werden. Auch „wer spricht“ spielt dabei immer eine Rolle. Solange überwiegend aus Sicht (weißer ) Mittelschichtsangehöriger „Normalität“ konstruiert und (be)wertet wird, wird es eine Wahrnehmung von „Anderen“ und von „Andersheit“ derer geben, die eben nicht Mittelschichtsangehörige sind.
Nicht nur Einzelsubjekte werden zu Gruppen subsumiert, sondern auch die Gruppen werden in ihren Merkmalen wiederum vereinheitlicht. Gibt es heterogene Besuchergruppen, zeigt sich, dass es nicht Ziel ist, nach Gemeinsamkeiten zu suchen, sondern vielmehr werden, selbst in der offenen Jugendarbeit, getrennte Angebote für sie gemacht. Die Gefahr dabei ist, dass auch in der nicht-schulischen Arbeit mit Jugendlichen Makrofaktoren wie Geschlecht, Ethnizität oder Klasse zu Kategorisierungseinheiten für den Lebensalltag der Jugendlichen werden. Die Individuen und ihre Strategien können dann nicht mehr gesehen werden.
Und die Jugendlichen?
Wenden wir uns also den Jugendlichen zu. Prozesse der Hierarchisierung bleiben nicht ohne Folge für die Betroffenen. Das Schulsystem und oft auch weitere (Bildungs)Angebote für Jugendliche repräsentieren den gesellschaftlichen Umgang mit Heterogenität und diese tun v.a. eins – sie selektieren. Diese Aufteilung in „gute“ und „schlechte“ Schüler, in Kinder die „was können“ oder die „nichts können“, deren Abschluss „was wert“ ist oder „nichts wert“ ist, können nur wenige Jugendliche aus eigenen Kräften überwinden. Sie erfahren hier eine Ungleichbehandlung im Kindesalter, die sie auch noch als Erwachsene zu Ungleichen macht.
Häufig beherrscht das den Alltag, für die Jugendlichen gibt es nur wenige Möglichkeiten, ihre Situationen anders zu wenden als es der gesellschaftlich hegemoniale Diskurs vorgesehen hat. Sie müssen sich mit ihrer gesellschaftlichen Situation auseinandersetzen, ob sie wollen oder nicht. Die Reaktionen sind dennoch vielfältig: Von Wut bis Resignation, von der Verinnerlichung von Hierarchisierung bis zu Strategien des Widerstands zeigt sich eine breite Palette. Ein paar Beispiele: Es zeigen sich Prozesse von Selbstethnisierungen, die als Reaktion auf diskriminierende Bedingungen gedeutet werden können. Lebt man in einem stigmatisierten Stadtteil, wird dieser häufig zur Identifikationsfläche, dem Stigma zum Trotz und eben weil man hier Ebenen des Zusammenlebens und des Zusammenhaltes findet, die der hegemoniale Diskurs ausblendet. Cliquen benennen sich nach Plätzen oder Straßen ihres Stadtteils, man trägt stolz die Herkunft aus diesem oder jenem Quartier und vielleicht noch zusätzlich die aus diesem oder jenem Herkunftsland (bzw. dem der Eltern) als Selbstbezeichnung mit sich. Ermächtigungsprozesse sind zu beobachten, auch wenn sie nicht immer glücken mögen: So zeigen beispielsweise Inszenierungen hypermaskuliner Männlichkeitsformen den Versuch des Auswegs aus der gesellschaftlich unterlegenen Situation, indem Geschlecht zur Erlangung von Macht eingesetzt wird. Zudem muss man sich bewusst machen, dass Globalisierung und Transnationalität multiple Zugehörigkeiten und hybride Identitäten ermöglichen. Es zeigen sich Lebensentwürfe, die Erol Yildiz (2011) z.B. als „postmigrantische“ benannt und gedeutet hat. Bezogen auf die zweite und dritte Generation finden sich eigensinnige Strategien im Umgang mit Diskriminierungen. Ebenso wie Selbstethnisierungen nehmen Jugendliche kreative Umdeutungen von Zuschreibungen vor oder agieren mit subversiven politischen Strategien. Transnationale Bezüge durch Freunde, Familie ebenso wie elterliche Migrationsgeschichten etc. eröffnen neue Perspektiven, über Orte und Lebensweisen nachzudenken. Zugehörigkeiten entziehen sich damit der Enge der „Nation“ oder der „Klasse“. Diese Entwicklung „subjektiver Möglichkeitsräume“ (Klaus Holzkamp), des „sich so oder auch anders verhalten könnens“, eilt den gesellschaftlichen Zuschreibungen voraus und lässt die Bemühung, die Jugendlichen darin festzuhalten, merkwürdig altertümlich erscheinen. Diese Möglichkeiten müssen Bildungs- und andere pädagogische Einrichtungen wahrnehmen und in Rechnung stellen, denn sie stellen große Ressourcen für die Jugendlichen dar und ermöglichen den Blick auf Individualität.
Literatur:
Gomolla, Mechtild/Radtke, Frank-Olaf (2002): Institutionelle Diskriminierung.
Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen.
Holzkamp, Klaus (1983): Die Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/Main.
Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2012): Segregation an Grundschulen. Der Einfluss
der elterlichen Schulwahl. In:
http://www.svr-migration.de/content/wp-content/uploads/2012/11/Segregation_an_Grundschulen_SVR-FB_WEB.pdf
Wellgraf, Stefan (2012): Hauptschüler. Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung. Bielefeld.
Yildiz, Erol (2011): Die Öffnung der Orte zur Welt und postmigrantische Lebensentwürfe.
http://www.uni-klu.ac.at/frieden/downloads/yildiz-artikel-postmigrantisch.pdf
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