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(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)
ISSN 2194-2668


Die Gaste, Ausgabe 29 / November-Dezember 2013

Entdemokratisierung durch „Bildung“1
[“Eðitim” Yoluyla Demokrasisizleþtirme]


PD Dr. Eva BORST
(Johannes Gutenberg-Universität Mainz)



Eine Gesellschaft kann erst dann als demokratisch gelten, wenn sie über parteipolitisches Kalkül hinaus, Individuen und außerparlamentarischen Gruppen sowie sozialen Bewegungen Gehör verschafft und deren Anliegen ernst nimmt. Den intellektuellen, schöpferischen, mehr noch, den kritischen Geist zu fördern, ihm einen Ort zuzuweisen, an dem er sich uneingeschränkt entfalten kann, müsste das demokratische Prinzip einer Politik sein, die sich nicht im Lobbyismus erschöpft.

Es mutet schon zynisch an zu behaupten, durch Bildung werde die Entdemokratisierung der Gesellschaft vorangetrieben, wo doch Bildung eigentlich gerade das Gegenteil bewirken soll. Demokratie und Bildung gehören zueinander, schon von ihrem Ursprung her. Der Bildungsbegriff zielt ja auf Mündigkeit und die Fähigkeit, autoritäre Strukturen zu erkennen und selbstbestimmt gegen die Einschränkungen von Freiheit angehen zu können. Mündigkeit erfordert einen stets kritischen Umgang mit den realen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Das heißt, Bildung ist der Widerspruch zum Gegebenen, das stets auf seine Freiheitsgrade hin zu befragen ist.

Durch Bildung gewinnt das Subjekt die Möglichkeit, zu sich selbst zu finden und sich mit der Welt in einer höchst differenzierten Form auseinanderzusetzen. Eine lebendige Demokratie braucht engagierte Menschen, die es vermögen, Bildung in diesem sehr substanziellen Sinne in ein humanes Handeln zu überführen die ihre Interessen selbstbewusst vertreten und sich solidarisch mit Minderheiten und diskriminierten Gruppen zeigen. Verantwortlich für die Entwicklung einer Demokratie, die dem Souverän, uns allen also, die Bedingung der Möglichkeit schafft, unserem Mitbestimmungsrecht Wirkung zu verleihen, ist die Politik. Sie muss den formalen Rahmen der Demokratie so gestalten, dass die wechselseitige Bedingtheit von Freiheit und Gerechtigkeit gewährleistet ist, und sie muss akzeptieren, dass öffentliche Auseinandersetzungen, gleich welcher Art, konstitutiv für das Gelingen eines demokratischen Miteinanders sind. Gerät dieses sensible Gleichgewicht außer Kontrolle, so bedeutet dies nicht nur eine Gefährdung der sozialen Demokratie an sich, sondern bedroht nachhaltig den sozialen Frieden. Aufgabe der Politik ist es, partikulare Interessen zurückzuweisen und aufgeschlossen zu sein für kritische Einsprüche. Freiheit und Gerechtigkeit sind nämlich nur dann zu realisieren, wenn eine Kultur des kritischen Dialogs zum Paradigma demokratischen Handelns wird.

Besagter Zynismus nun liegt durchaus nicht dem Bildungsbegriff selbst zugrunde, sondern der Art und Weise, wie heute in Politik und Wirtschaft über Bildung gedacht und gesprochen wird. Eine Bildungspolitik, die sich in den Dienst der Wirtschaft stellt und Bildung als Mittel zu einem außer ihr liegenden Zwecken missbraucht, muss sich darüber im Klaren sein, dass sie damit tendenziell eine Entscheidung gegen eine demokratisch legitimierte Gesellschaft trifft. Eine Gesellschaft kann erst dann als demokratisch gelten, wenn sie über parteipolitisches Kalkül hinaus, Individuen und außerparlamentarischen Gruppen sowie sozialen Bewegungen Gehör verschafft und deren Anliegen ernst nimmt. Den intellektuellen, schöpferischen, mehr noch, den kritischen Geist zu fördern, ihm einen Ort zuzuweisen, an dem er sich uneingeschränkt entfalten kann, müsste das demokratische Prinzip einer Politik sein, die sich nicht im Lobbyismus erschöpft. Das Gegenteil aber ist der Fall.

Wir müssen leider feststellen, dass Bildung reduziert ist auf ihre Verwertbarkeit, Brauchbarkeit und Effizienz mit dem Ziel, Heranwachsende an die Marktmechanismen anzupassen und sie möglichst konform in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Unterricht im Denken und Nachdenken wird dem Wettbewerb geopfert. Kinder und Jugendliche werden nämlich beizeiten daran gewöhnt, sich unablässig als Konkurrenten dem Wettbewerb um die besten Stellen zu stellen. Versüßt und angeheizt wird dieses konkurrierende Verhalten durch die Auslobung von Preisen, die zumeist mit einer finanziellen Gratifikation verbunden sind und mit dem Versprechen, einen Platz an der Sonne zu bekommen.

Politiker und Politikerinnen zeigen sich wenig oder gar nicht aufgeschlossen, so meine Erfahrung und vermutlich auch diejenige vieler meiner Kollegen und Kolleginnen, gegenüber kritischen Einwänden. Sie ziehen sich auf den internationalen Wettbewerb zurück und suggerieren, alles sei auf dem besten Weg, wenn die Zusammenarbeit zwischen Schulen, Hochschulen und Universitäten noch weiter vertieft werden könne. Bildung zur Humanität in einem sozialen Gefüge, das sich auf die grundlegenden demokratischen Spielregeln besinnt und für Gerechtigkeit eintritt, scheint in Vergessenheit zu geraten. Bildung in Konkurrenz und durch Konkurrenz indessen ist eine Form der Verrohung, die nichts Gutes verheißt. So sind etwa auch die Diskussionen über Inklusion nur dann nachhaltig, wenn sie im Namen einer emanzipatorischen, humanen Bildung geführt werden, nicht nur mit Rücksicht auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen, sondern auch unter der Perspektive einer kritischen Gesellschaftstheorie, die die Macht- und Herrschaftsverhältnisse aufdeckt.

Der Zugriff auf die Bildung von Seiten einer neoliberalisierten Wirtschaft hat zwei Gründe: Zum einen beanspruchen ihre Vertreter und Vertreterinnen den Führungsan-spruch in der Gesellschaft. Daher sollen die Geschicke des Gemeinwesens einer Elite anvertraut werden. Zum anderen ist die Wirtschaft an einer marktkonformen bzw. marktwirtschaftlichen Demokratie interessiert. Nach den Vorstellungen beispielsweise der Bertelsmann-Stiftung kann es keine Demokratie außerhalb des marktwirtschaftlichen Geschehens geben. Unter der Deutungshoheit einer neoliberalisierten Wirtschaft wird auf diese Weise nicht nur der Bildungsbegriff warenförmig. Auch die Demokratie wird darauf reduziert, der Wirtschaft dienlich zu sein. In ihrem Transformations Index 2006 etwa bekennt sich die Bertelsmann-Stiftung im Rückgriff auf den Ökonomen Friedrich August von Hayek offen zu einer „evolutionären Moral“, die sich nicht mehr aus der Vernunft begründet: Diese Moralregeln, so ist dort zu lesen, „sollten deshalb weder durch politische Mehrheiten noch nach deduzierten Vernunftprinzipien korrigiert werden.“2 Moral ist demnach weder Ergebnis von demokratischen Aushandlungsprozessen noch Ergebnis einer humanen Bildung. Obwohl nur in einer Anmerkung festgehalten, so doch alarmierend, ist darüber hinaus die Tatsache, dass die Bertelsmann-Stiftung den, wie sie dort schreibt, „politisch motivierte(n) Katalog der ‚sozialen Menschenrechte’“3 zur Disposition stellt. Da soziales Handeln nur noch am Wert des ökonomischen Erfolgs gemessen wird, also Ökonomie und Soziales als identisch gelten, sind all jene Rechte illegitim, die dieser Konstellation widersprechen.

Damit greift der Neoliberalismus tief in unser bisheriges Verständnis von Demokratie und Mitbestimmung ein und stellt unser bisheriges politisches System grundsätzlich in Frage. Seine Vertreter plädieren öffentlich für einen politischen Systemwechsel, um unternehmensstrategische Entscheidung schnell und effizient ausführen zu können. So gelangt etwa Manfred Pohl, ehemaliger Leiter des historischen Instituts der Deutschen Bank und Mitbegründer des neoliberalen „Konvents für Deutschland“4 zu der Auffassung, dass unsere heute noch durch die Verfassung geregelten politischen Institutionen wie die Aktiengesellschaft eines Unternehmens geregelt werden sollen.5 Nicht unberührt davon bleibt das Bildungssystem. Die damit einhergehende Entdemokratisierung und Entpolitisierung vollzieht sich momentan auf drei verschiedenen Ebenen, die in ihrer wechselseitigen Verschränkung fatale Folgen zeitigen werden:

    1. Auf der demokratietheoretischen Ebene: die Demokratie wird betriebswirtschaftlichen Erfordernissen angepasst.

    2. Auf der Ebene der politischen Ökonomie: Politische Interessen und wirt-schaftliche Interessen sind identisch.

    3. Auf der Ebene der Bewusstseinsbildung: Bildung wird den Marktmechanis-men unterworfen und nach betriebswirtschaftlichen Kennziffern gesteuert.

Dass die Kapitaleigner nun auch beabsichtigen, sich Bildung untertan zu machen, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sie durchaus die enorme Sprengkraft, die einer kritischen Bildung innewohnt, verstanden haben. Es gilt, den Unruheherd „Bildung“ zu neutralisieren, um das eigentliche Anliegen, nämlich die „marktwirtschaftliche Demokratie“ und mit ihr die Interessen der Privateigentümer, ungehindert durchsetzen zu können.

Der Bereich der Bildung ist daher das Kampffeld, auf dem sich die größten Unsicherheiten im Hinblick auf die Vormachtstellung der Wirtschaft zeigt. Die neoliberale Destabilisierungspolitik im Bereich sozialer Gerechtigkeit bedarf als Katalysator eines marktwirtschaftlichen Strukturanpassungsprogramms, zu dem unter anderem die Kontrolle des Bildungssystems und der Bildungsinhalte selbst gehört. Da die Wirtschaft heute auf flexible, hochanpassungsfähige und individualisierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewiesen ist, die risiko- und konkurrenzfreudig, überaus engagiert und selbstoptimierend ihrer Arbeit nachgehen, bevorzugt sie eine „Bildung“, die in diesem Sinne für Konformität und Anpassung sorgt.

Das geschieht in unterschiedlichen Bereichen, die zusammengenommen für die Wirtschaft und die Bildungsindustrie von außerordentlich großem Gewinn sein wird:

    1.) durch Elitebildung,

    2.) durch die sogenannten „selbständigen Schulen“, die wie Unternehmen zu führen sind und über Budgethoheit, Personalhoheit und selbständig pädagogische Ziele verfügen,

    3.) durch Profilierung und Streuung des Wissens,

    4.) durch die Reduktion staatlicher Zuschüsse, die Hochschulen, Universitäten und Schulen zwingen, sich der Privatwirtschaft anzupassen.

    Bildung freilich ist unkontrollierbar und bedeutet Überschreitung des Gegebenen und damit die Bedingung der Möglichkeit, Widerstand gegen ökonomische Zumutungen, gegen Entmündigung und gegen Entdemokratisierung zu leisten. Widerstand entsteht überall dort, wo die Inhumanität des Kapitals und seine zerstörerischen Wirkungen in krassester Form in Erscheinung treten. In Griechenland, Spanien, Portugal und anderswo demonstrieren die Menschen für ihre sozialen und demokratischen Rechte; Rechte, die die Vertreter des Neoliberalismus abschaffen wollen.
       
       
       
        Fussnoten
        1 Es handelt sich bei dem Text um eine stark gekürzte und überarbeitete Fassung eines Vortrags für die GEW Bremerhaven am 17.04.2013.
        2 Bertelsmann-Stiftung: Transformations Index 2006, S. 68/69 (http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-545483A2-68097518/bst/xcms_bst_dms_27611_27612_2.pdf, abgerufen: 17.09.2013).
        3 Ebenda, S. 81.
        4 orsitzende sind Roman Herzog Bundespräsident a.D. und Unterstützer des neoliberalen Think Tanks „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (Träger sind die Arbeitgeberverbände) und der Manager und ehemaliger Präsident das BDI Hans-Olaf Henkel.
        5 Vgl. Manfred Pohl: Das Ende des weißen Mannes. Eine Handlungsaufforderung 2007.