Die Gaste, Ausgabe 8 / Juli-August 2009

Schwierige Verhältnisse
Plädoyer für eine ‚andere‘ Sicht auf Kulturkonflikte in der Schule

(Zor Koþullar
Okuldaki kültür çatýþmalarýna “farklý” bir bakýþ için ek sav
)


Prof. Dr. Joachim SCHROEDER



    Verfügbar sind aber auch einige biografische Darstellungen, die sehr dicht an die Erfahrungen der „Ghettokids“ herankommen und denen es gelingt, vielfältige Varianten eines „Habitus der Überlebenskunst“ zu beschreiben, ohne die Jugendlichen vorzuführen (Korbmacher 2004, Hiller/Jauch 2005, Seukwa 2006). In den Schilderungen werden Bildungsbenachteiligungen als gesellschaftliche Verteilungsprobleme und nicht als individuelle Integrationsdefizite interpretiert.

Shakil stammt aus dem Irak und absolviert in Hamburg gerade ein Berufsvorbereitungsjahr. Er bewohnt ein zehn Quadratmeter großes Zimmer ohne Bad und hat monatlich rund 320 Euro zur Verfügung. Er lebt ohne Familienangehörige in Deutschland, auch Freunde hat er nicht viele. Mit 14 Jahren verließ er zu Fuß seine Heimat und gelangte schließlich über recht abenteuerliche Wege nach Hamburg. Spätestens alle drei Monate muss er zur Ausländerbehörde, um seine Duldung zu verlängern. Sein Bildungsverlauf ist mehrfach unterbrochen, einen Schulabschluss konnte er bislang nicht erwerben. Seit einiger Zeit unterstütze ich ihn in seinen schulischen Angelegenheiten und auch in dem, was im Alltag zu erledigen ist. Geboren bin ich in Deutschland und habe ohne nennenswerte Unterbrechungen das hiesige Bildungssystem durchlaufen. In Hamburg und Frankfurt habe ich jeweils eine Wohnung, die beide geräumig und mit dem üblichen Komfort ausgestattet sind. Mein Monatseinkommen beträgt mehr als das Zehnfache dessen, was Shakil momentan zum Leben hat; meinen Freundeskreis würde ich als relativ groß und als zuverlässig bezeichnen. Über meine deutsche Staatsbürgerschaft habe ich mir noch nie wirklich Gedanken gemacht.

In einer wichtigen Studie zu „Etablierten und Außenseitern“ hat Norbert Elias (1990) darauf hingewiesen, dass in einer Gesellschaft soziale Gruppen miteinander verflochten sind, zwischen denen ein „Machtdifferential“, also eine ungleiche Verteilung von Machtchancen, besteht. Doch „man hat sich daran gewöhnt, Gruppenbeziehungen [...] aus rassischen, ethnischen oder manchmal auch religiösen Unterschieden zu erklären.“ Für Elias aber sind „Begriffe wie ‚rassisch‘ oder ‚ethnisch‘, die in diesem Zusammenhang sowohl in der Soziologie als auch in der breiten Gesellschaft weithin gebraucht werden, Symptome einer ideologischen Abwehr“. Durch ihre Verwendung „lenkt man die Aufmerksamkeit auf Nebenaspekte“ – zum Beispiel kulturelle Differenzen – und „zieht sie ab von dem zentralen Aspekt“ – den Machtunterschieden (S. 27).

Solche Einsichten warnen davor, die alltäglichen Spannungen zwischen Lehrkräften und den sozial benachteiligten männlichen Migranten vorschnell als „Kulturkonflikte“ zu interpretieren. Vielmehr ergibt sich aus der Perspektive von Elias betrachtet in solchen Lehrer-Schüler-Beziehungen ein „Machtdifferential“, das weit über das Machtgefälle hinaus geht, das in erzieherischen Verhältnissen zwischen Kindern und Erwachsenen immer gegeben ist. In pädagogischen Beziehungen bilden sich eben auch globale Konflikte zwischen Reichtums- und Armutsgesellschaften ab. Diese alltäglich spürbare soziale Ungleichheit wird oftmals wechselseitig mit kulturellen Zuschreibungen bewertet: Die jungen Männer werden pauschalisierend als „Machos“ zu kulturell Abweichenden definiert; die Lehrkräfte dagegen stehen schnell unter Verdacht, „Rassisten“ zu sein. Nach Elias wären demgegenüber nicht die Wirkungen der (vermeintlichen) kulturellen Differenzen, sondern der (real gegebenen) sozio-okönomischen Unterschiede auf den pädagogischen Bezug zu reflektieren. In eine Formel gepresst lautet sein Argument: Schicht schlägt Kultur!

Um als bürgerliche „Etablierte“ nicht den medial vermittelten oder subjektiv konstruierten Interpretationen über die lebensweltlichen Verhältnisse der marginalisierten „Außenseiter“ aufzusitzen, kann Alltagsbegleitung ein guter Weg sein, um sich den realen Lebenslagen solcher Jugendlichen anzunähern – soziale Verhältnisse, in denen wir ja für gewöhnlich selbst nicht leben und die wir allenfalls aus dem Fernsehen kennen. Verfügbar sind aber auch einige biografische Darstellungen, die sehr dicht an die Erfahrungen der „Ghettokids“ herankommen und denen es gelingt, vielfältige Varianten eines „Habitus der Überlebenskunst“ zu beschreiben, ohne die Jugendlichen vorzuführen (Korbmacher 2004, Hiller/Jauch 2005, Seukwa 2006). In den Schilderungen werden Bildungsbenachteiligungen als gesellschaftliche Verteilungsprobleme und nicht als individuelle Integrationsdefizite interpretiert. Die sozialen Verhältnisse, die in den Biografien der Jugendlichen aufscheinen, werden als Bewältigungsstrategien gesellschaftlicher Machtdifferentiale verstanden.

Susanne Korbmacher, Lehrerin in München, berichtet in ihrem Buch über ein Gespräch mit dem 12-jährigen Ilias, einem ihrer Schüler: „Weißt Du, wenn mein Sohn so reagiert wie du eben in der Klasse, dann hat er meistens ein riesiges Problem. Obwohl wir uns gut verstehen, kann er genauso sein, wie Du es gerade warst. – Deinem Sohn geht es gut. Der hat doch alles, Und wir haben nichts. Nur Probleme. Da sind wir reich. – Wenn Du willst, dass ich dich verstehe, dann musst du mir dabei helfen. – Ich soll dir helfen? Wie kann ich dir helfen? Ich, der nur ein Scheißleben, eine Scheißfamilie hat, soll einer Lehrerin helfen? Du machst dich über mich lustig? – Warum glaubst du, sitze ich mit dir hier draußen und bin nicht in der Klasse, um meinen Unterricht zu halten? Mir ist wahrlich nicht nach Späßen zumute. – Meine Mutter kriegt jeden Monat Geld vom Sozialamt. Nicht viel, weil sie ja noch arbeitet. Und das hat sich am Freitag mein Stiefvater unter den Nagel gerissen. So, wie er es immer macht. Vom Geld als Lagerarbeiterin musste meine Mutter die Stromrechnung bezahlen. So, jetzt weißt du’s. Zufrieden? – Und das hat dich so wütend gemacht, dass du in der Schule am Montag total ausflippen musstest? Ich weiß nicht. – Du hast heute Morgen nichts gefrühstückt. Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen? – Um vier. – Um vier heute Früh? Sicher nicht. Gestern nachmittag um vier Uhr? Ich kann’s gar nicht glauben. So kann kein Mensch lernen. – Nicht gestern. Gestern war Sonntag. Ich meinte aber Samstag. Da habe ich um vier Uhr ein Pizzastück am Hauptbahnhof gegessen.“ (Korbmacher 2004, S. 264f.)

In diesen Texten werden fast durchweg männliche Jugendliche beschrieben, die sozial ausgeschlossen sind; etliche, aber nicht alle, haben einen Migrationshintergrund. Wir wissen, dass die Gestaltung von Lebensentwürfen und auch die Entwicklung von Männlichkeitskonzepten ganz wesentlich von den jeweils verfügbaren sozialen Ressourcen abhängen. Deshalb unterscheiden sich die Vorstellungen eines „Hassan“ zu seiner Männlichkeit nur im Detail von denen eines „Sven“, wenn beide unter familiären und sozialen Bedingungen aufwachsen, die durch ein geringes Einkommen, brüchige oder konflikthafte Beziehungen zu Erwachsenen, beengte Wohnverhältnisse, ungesicherte Rechtslagen und Ausgrenzung im Schul- bzw. Ausbildungssystem gekennzeichnet sind. Solche in sozialer Randständigkeit sich herausbildenden milieuspezifischen Männlichkeiten sind sowohl ein Produkt der gegebenen sozialen Bedingungen, als auch eine Möglichkeit, diese gesellschaftliche Ausgrenzung zu bewältigen.

Denn aufgrund des Spannungsverhältnisses von Erwartungen und Zuschreibungen der Institutionen (Schule, Polizei) und der Definitionsmacht der Medien müssen die Jugendlichen einerseits auf Männlichkeitsmuster zurückgreifen, die in der gesellschaftlich vorherrschenden Geschlechterordnung für marginalisierte Jugendliche vorgesehen sind. Andererseits bleibt den Jugendlichen für ihre Selbstgestaltung kaum mehr als zu versuchen, in den Grenzen der gegebenen sozialen Verhältnisse durch ‚abweichende’ Männlichkeitsentwürfe eine Distanz zu anderen Schichten und Milieus sowie zu den dort dominierenden Männlichkeiten zu markieren. Vielen sozial ausgeschlossenen Jugendlichen gelingt es solchermaßen, sich in ihren „eigenen Verhältnissen“ einzurichten, indem sie „eigene“ Männlichkeitskonzepte entwerfen (Deniz 2001; Potts/Kühnemund 2008; Sauter 2000; Thielen 2009).

Die gesellschaftliche Ausgrenzung wird von den jungen Männern mal in faszinierenden spielerischen Formen, mal durch ein pragmatisches Konfliktmanagement bewältigt. Jedenfalls wissen diese Jugendlichen sich selbst mit elenden Gegebenheiten produktiv und für sich hinnehmbar, wenn nicht sogar erträglich zu arrangieren, ohne deshalb in Einsamkeit, Selbstisolation oder in die Flucht auf die Straße, in Gewalt, Drogen oder religiösen Fundamentalismus zu drängen. Gleichwohl kollidieren diese Männlichkeitsentwürfe mit denen der (männlichen wie weiblichen) Lehrkräfte und führen permanent zu „kulturellen“ Missverständnissen, in denen letztlich soziale Anerkennungskonflikte ausgetragen werden. Anders kann ich es mir nicht erklären, weshalb ein türkischer Jugendlicher, den ich in seinen Schularbeiten unterstütze, mir auffallend oft entweder ärgerlich oder auch peinlich berührt erzählt, dass seine Mutter gerade wieder bei einer Lehrerin zuhause putzt.


Literatur

Deniz, Cengiz (2001): Migration, Jugendhilfe und Heimerziehung. Rekonstruktionen biographischer Erzählungen männlicher türkischer Jugendlicher in Einrichtungen der öffentlichen Erziehung. Frankfurt/Main: IKO.

Elias, Norbert (1990): Zur Theorie von Etablierten-Außenseitern-Beziehungen. In: Elias, Norbert; Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter. Frankfurt am Main, S. 7-56.

Hiller, Gotthilf Gerhard; Jauch, Peter (Hrsg. 2005): Akzeptiert als fremd und anders. Pädagogische Beiträge zu einer Kultur des Respekts. Ulm: Vaas.

Korbmacher, Susanne (2004): Ghettokids. Immer da sein, wo’s weh tut. München: Pieper.

Potts, Lydia; Kühnemund, Jan (Hrsg. 2008): Mann wird man. Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam. Bielefeld: transcript Verlag.

Sauter, Sven (2000): Wir sind „Frankfurter Türken“. Adoleszente Ablösungsprozesse in der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Frankfurt/Main: Brandes & Apsel.

Seukwa, Louis Henri (2006): Der Habitus der Überlebenskunst. Zum Verhältnis von Kompetenz und Migration im Spiegel von Flüchtlingsbiographien. Münster: Waxmann.

Thielen, Marc (2009): Wo anders leben? – Migration, Männlichkeit und Sexualität in biografischen Erzählungen iranischer Männer in Deutschland. Münster: Waxmann Verlag.