Wie kommt es eigentlich, dass für Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien immer mehr getan wird, sie aber trotzdem immer häufiger im Bildungssystem scheitern?
Es ist eher unwahrscheinlich, dass es an der Qualität der pädagogischen Angebote liegt. Sie dürften heute kaum schlechter sein als vor zwanzig Jahren. Es ist ebenfalls eher unwahrscheinlich, dass es am Leistungsniveau der betroffenen Kinder liegt. Denn das dürfte auch nicht tiefer liegen als vor zwanzig Jahren. Wenn man diese Frage etwas besser verstehen und möglichen Antworten zumindest ansatzweise auf die Spur kommen will, ist es notwendig, sich die Natur des Bildungssystems für einen Augenblick genauer anzusehen.
Da sind zunächst seine Kategorien, die sehr viel weniger schlüssig sind, als sie es vorgeben. Zwar werden jedes Jahr tausende von Kindern als lernbehindert diagnostiziert. Aber dies geschieht, ohne dass es eine gültige Definition dafür geben würde, was eine Lernbehinderung genau ist. Vielmehr sieht es so aus, als ob vor Ort jeweils neu ausgehandelt wird, was man darunter zu verstehen hat. Misst man dies direkt an den Entscheidungen des Bildungssystems, etwa indem man die Quoten der Sonderschulüberweisungen vergleicht, stösst man auf ganz verschiedene lokale Auffassungen darüber, was schulischer Misserfolg ist. So kann die Wahrscheinlichkeit, als lernbehindert klassifiziert zu werden, zwischen den einzelnen Bundesländern bis um das Dreifache, bei Kindern aus Zuwandererfamilien bis um das Siebenfache variieren. Für den Bildungserfolg von vielen Immigrantenkindern spielt damit letztlich nicht nur das so gerne problematisierte Herkunftsland sondern mindestens ebenso ihr Wohnort in der Bundesrepublik eine entscheidende Rolle. Eine analoge Standortabhängigkeit des Bildungserfolgs lässt sich auch bei der Selektion auf der Sekundarstufe beobachten.[1] Insgesamt verstärken bildungsstatistische Vergleiche immer wieder den Eindruck, dass sich die vergebenen Kategorien des Bildungssystems mehr nach dem verfügbaren Platzangebot und weniger nach den effektiven Leistungseigenschaften der Schülerinnen und Schüler richten. Nur wenige Kilometer Distanz können aus einem Haupt- einen Realschüler und aus einem Sonderklassen- einen Regelklassenschüler machen. Auf schier wundersame Weise hat es dann in jeder Schulregion immer genau so viele leistungsschwache Kinder, wie Plätze dafür vorgesehen sind.
Nationalstaatliche Zugehörigkeit ist keine originäre pädagogische Kategorie. Vielmehr ist es die einer juristischen Konzeption des modernen Nationalstaates entliehene Klassifikation, die das Bildungssystem erst im Laufe der Zeit in einer ihm eigenen Form zu interpretieren und zu integrieren gelernt hat. Mittlerweile hat sich diese Klassifikation als solider Bestandteil der Codes des Bildungssystems etabliert und festgesetzt. Kausale Zusammenhänge, Problemlagen und ihre Ursachen gerinnen in historischen Prozessen zu übersichtlichen und homogenen Denkfiguren, welche künftige Schulbiographien erwartbar und Karriereprognosen vermeintlich gesichert machen. Mit fast schon zuverlässiger Stetigkeit bekommt jede neue Generation von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien die unteren Plätze in der Bildungspyramide zugewiesen. Am Ende dieses Diskurses voreiliger Generalisierungen wird die nationalstaatliche Zugehörigkeit selbst zum diffusen, aber alles erklärenden Faktor schulischen Misserfolgs.
Aber schon die bisweilen ritualisiert vorgetragenen Mängel an den Deutschkompetenzen sind kein zuverlässiges Merkmal von Schülerinnen und Schülern aus Zuwandererfamilien. Bei einer Studie mit 2000 Schulkindern1 in der deutschsprachigen Schweiz erreichen sie bei den Deutschleistungen im Durchschnitt weniger hohe Werte als die Schweizer Mitschüler. Aber von den 424 Schülern aus Migrationsfamilien schneidet nur ein einziges Schulkind schlechter als das leistungsschwächste Schweizer Kind ab. Im untersten Leistungsviertel befinden sich aus beiden Gruppen etwa gleich viele Schüler. Es wäre falsch anzunehmen, dass Kinder aus zugewanderten Familien allgemein Schwierigkeiten in Deutsch haben. Und ebenso wäre es falsch anzunehmen, ihre heimischen Kollegen hätten allgemein keine Schwierigkeiten.
Die zunehmende Überweisung von Zuwandererkindern an Sonderschulen bleibt nicht ohne Folgen für die Diagnosen bei den ansässigen Schülerinnen und Schüler. Denn bei ihnen ist das Risiko, als lernbehindert diagnostiziert zu werden, im gleichen Zeitraum ohne erkennbares eigenes Zutun markant zurückgegangen. Dieses eigenartige Phänomen erinnert an den von der Soziologie in den 1970er-Jahren als „Unterschichtung“ bezeichneten Prozess. Es sieht so aus, als ob der Effekt nicht nur im Arbeitsmarkt, sondern auch im Bildungssystem wirksam ist, so dass für die ansässigen Kinder in der Schule das zutrifft, was für ihre Väter und Mütter im Beschäftigungssystem gilt: ihnen eröffnen sich zusätzliche Aufstiegsmöglichkeiten. Sobald die Immigrantenkinder die unteren Plätze der Bildungspyramide einnehmen, machen ansässige Kinder vermehrte Aufstiegserfahrungen bzw. gehen ein geringeres Risiko zur negativen Selektion ein. Dieser Effekt kann sogar innerhalb einer Schulklasse auftauchen.
Das gilt auch für den Übertritt in die Sekundarstufe. Die oben erwähnte Schweizer Studie konnte zeigen, dass der Selektionsprozess von leistungsfremden Faktoren gestört wird. Unabhängig vom erzielten Lernergebnis strukturieren die individuellen Herkunftsmerkmale den Bildungserfolg. Selbst bei gleichen Leistungen unterscheidet sich die Wahrscheinlichkeit, eine weiterführende Schule besuchen zu können, zwischen einem Schweizer Mädchen aus einer privilegierten Familie und einem Jungen aus einer unterprivilegierten Zuwandererfamilie etwa um das Zweieinhalbfache. Es wäre viel zu einfach den Fehler bei den Lehrpersonen zu suchen. Nach allem was man heute weiss, tut die Schule dies nicht aus boshafter Willkür oder aus unkontrollierten Diskriminierungsgelüsten heraus. Eher steckt dahinter organisatorisches Kalkül. Die soziale Herkunft ist eine hilfreiche Argumentationsressource bei Selektions- und Zuweisungsentscheiden, die man im Bedarfsfall nutzen kann aber nicht nutzen muss. Vorbei an den tatsächlichen individuellen Leistungseigenschaften selektioniert die Schule immer dann positiv oder negativ, wenn es ihren organisatorischen Bedürfnissen entgegen kommt. Deshalb neigt die Schule vermutlich bisweilen dazu, dass Leistungsprinzip eher zur eigenen Legitimation zu inszenieren, als sich nach ihm zu richten. Das erklärt zum Beispiel auch, weshalb derzeit an einigen Gymnasien auch für türkische Jungen die Türen weit offen stehen.
Mit den hier skizzierten Beobachtungen soll keineswegs in Abrede gestellt werden, dass es Schülerinnen und Schüler gibt, die den Leistungsansprüchen nicht genügen können. Aber allzu schlichte Problemdefinitionen, welche die Ursachen dafür allein bei den betroffenen Kindern vermuten, können einige gut dokumentierte Phänomene im Bildungssystem nicht erklären.
Trotzdem vermögen sich die bequemen Gewissheiten über den erfolgreichen und den scheiternden Schüler hartnäckig halten. Vielleicht ist dies deshalb so, weil sie für das Bildungssystem nützlich und funktional sind. Die oft beklagte Leistungsheterogenität ist ein pädagogisches Problem. Aber organisatorisch scheint sie eher die Lösung zu sein. Sie ermöglicht und legitimiert erfolgreich eine flexible Lenkung von Schülerströmen. Im Einzelfall ist es durchaus möglich, dass die pädagogische Förderung von Kindern aus Zuwandererfamilien erfolgreich ist, ihnen aber dennoch nur eine bescheidene Bildungskarriere eröffnet.
Am Ende sind möglicherweise der schwache und der gute Schüler gar nicht so sehr pädagogische Kategorien, sondern bildungspolitische Grössen.
[1] Winfried Kronig, „Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs“ (2007), Haupt, Bern und Stuttgart.
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