Der Hamburger Volksentscheid gegen die Einführung einer sechsjährigen Primarschule, also gegen sechs Jahre gemeinsames Lernen für alle Kinder, ist ein schwerer Schlag für alle, die ein zukunftsweisendes, weniger selektives Schulsystem wollen. Der Aufstand der Etablierten gegen das von einer breiten Koalition getragene Reformvorhaben wird die Parteien so einschüchtern, dass sie von ähnlichen Demokratisierungsversuchen, zumindest auf absehbare Zeit, auch anderswo die Finger lassen. Dabei wäre die Einführung der Primarschule nur eine vorsichtige und bescheidene Modifikation des mehrgliedrigen Schulsystems gewesen. Dieses System wird von fast allen Experten für die große Schere zwischen unteren und oberen Leistungsniveaus und deren Abhängigkeit von sozialen Lagen abhängig gemacht. Denn der internationale Vergleich zeigt, dass integrative Schulsysteme soziale Benachteiligungen besser ausgleichen. Mancher wird darauf verweisen, dass Berlin und Brandenburg unter diesem Gesichtspunkt mit ihrer sechsjährigen Grundschule bisher nicht sehr viel besser abschnitten. Aber einige Argumente sprechen sehr für eine verlängerte gemeinsame Grundschulzeit. Erstens ist die Entwicklung vieler Kinder aus wissenschaftlicher Sicht nach vier Schuljahren nicht endgültig abschätzbar. Zweitens brauchen Kinder mit schlechteren Startchancen eine längere Förderung, um ihre Rückstände aufzuholen. Unter diesem Aspekt wäre vor allem für viele Kinder mit Migrationshintergrund die geplante Primarschule von Vorteil gewesen. Wenn man weiß, dass Sprachwissenschaftler davon ausgehen, dass Kinder mit anderer Familiensprache bis zu acht Jahre brauchen, bis sie die Schulsprache beherrschen, dann ist eine sechsjährige Grundschule eine Minimalforderung.
Selbst diese Minireform, zu der sich die Hamburger Parteien in einer Anwandlung von Vernunft durchgerungen hatten, ist nun von einer Minderheit zu Fall gebracht worden. Wer war die Minderheit? Es war die APO* der Gutbetuchten, jedenfalls sozial besser Gestellten, wie die Analyse der Wahlbeteiligung zeigt. Die war in den guten Wohngegenden höher als anderswo. Insgesamt beteiligten sich nur 40 Prozent der Wahlberechtigten an der Abstimmung, übrigens mehrheitlich per Briefwahl. Es mag sein, dass die „kleinen Leute“ ihre Interessen nicht richtig erkannt haben, vielleicht den Medien aufgesessen sind oder sich zu wenig von politischer Partizipation versprechen. Aber 206.000 Hamburger, nämlich die Wahlmündigen ohne deutschen Pass, konnten gar nicht abstimmen. Hätte nur die Hälfte von ihnen für die Reform gestimmt, wäre diese nicht gekippt worden. Kann man da überhaupt von einem „Volksentscheid“ sprechen?
Wer weiß, dass Hamburg auf eine große reformpädagogische Tradition zurückblickt – unter anderem hat Peter Petersen dort als Gymnasiallehrer angefangen – wird von der reaktionären Entwicklung dort doppelt überrascht. Im Übrigen hatten gerade Hamburger Untersuchungen in jüngster Zeit die Ungerechtigkeit unseres Schulsystems aufgezeigt. Aber vergeblich. Die Gewinner der Bildungsexpansion haben die Leiter hoch gezogen, damit nicht zu viele nachdrängen. „Wir wollen lernen“, so der zynische Slogan der Reformgegner. Mit „wir“ meinten sie nur ihresgleichen.
* Anmerkung für die Übersetzung: APO steht für Außerparlamentarische Opposition, in den 1960er Jahren eine Bewegung links von den etablierten Parteien.
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