In der 28. Ausgabe dieser Zeitschrift schloss der Verfasser
seinen Beitrag über das typisch Deutsche mit einem kurzen
Blick auf die deutsche Tüchtigkeitssethik, die in vielen
Bereichen des ökonomischen und kulturellen Lebens zum
Ausdruck kommt. Da es sich hier um etwas handelt, worin sich
die Deutschen vor allem von den Briten und den Amerikanern
auffällig unterscheiden, soll den Ursprüngen und Gründen
dieser nationaltypischen Eigenheit noch einmal ausführlicher
nachgegangen werden.
Deutsche zählen den Fleiß zu ihren nationalen Tugenden, und
viele Ausländer stimmen ihnen zu, obleich die Statistik dem
entgegensteht; denn der deutsche Arbeitnehmer rangiert mit
seinen Jahresarbeitsstunden weit hinter Japanern, Amerikanern
und den meisten anderen Nationen. Noch typischer als der
Fleiß ist für die Deutschen aber etwas, das auf den ersten
Blick das Gleiche zu sein scheint, doch eine andere
emotionale Bedeutung hat, nämlich Tüchtigkeit. Das Wort
'tüchtig' geht wie das Wort 'Tugend' auf das Verb 'taugen'
zurück. Insofern bedeutet 'Tüchtigkeit' eigentlich Tugend
schlechthin. Während als fleißig schon der gilt, der sich
einer Aufgabe mit Eifer widmet, bedeutet tüchtig, dass man
sich bis an die Grenze des Möglichen anstrengt. Unter einem
tüchtigen Arbeiter stellt man sich jemanden vor, der die
Ärmel hochkrempelt und dem der Schweiß auf der Stirn steht,
was als Ehrenzeichen gilt, auf das man stolz ist.
Dass dies nicht in allen Nationen so empfunden wird, wurde an
früherer Stelle bereits mit einem Blick auf England
angedeutet. Auf der Insel hatte sich im 18. Jahrhundert das
Ideal des Gentleman ausgebildet, das noch heute die
Mentalität der Briten, wenn nicht bestimmt, so doch latent
prägt. Von einem Gentleman erwartet man nicht, dass er
bestimmte Leistungen vollbringt, sondern dass er in allen
Lebenslagen Haltung bewahrt. ein Gentleman darf sich nicht
anmerken lassen, dass ihm etwas unter die Haut geht, und er
darf nicht zeigen, dass ihn etwas anstrengt. Der Schweiß auf
der Stirn ist für ihn kein Ehrenzeichen, sondern eher ein
Makel. Diese Haltungsethik wurde im 19. Jahrhundert in den
Public Schools, den Kaderschmieden der Nation, den Kindern
der Oberschicht vermittelt, die danach als Herrschaftselite
in die Kolonien gingen und dort den kolonisierten V"ökern
Respekt abnötigten, z. B. dadurch, dass sie sich bei 40 Grad
im Schatten und hundert Prozent Luftfeuchtigkeit trotzdem zum
Dinner Abendgarderobe anlegten. Die britische Alltagskultur
lässt noch heute Reste dieser Haltung erkennen, wenngleich
inzwischen auch hier die Hemdsärmeligkeit auf dem Vormarsch
ist.
Die Deutschen, zumal die liberalen Protestanten im Norden,
haben für England seit dem 18. Jahrhundert viel Bewunderung
und Sympathie empfunden. Doch vom Ideal des Gentleman
übernahmen sie nur den sportlichen Code des Fairplay und die
Herrenmode. Im übrigen war das deutsche Ideal der "gebildete
Mensch". Unter Bildung verstand und versteht man noch heute
in erster Linie eine Beschlagenheit auf vielen geistigen und
künstlerischen Gebieten. Eine kluge Definition sagt zwar,
dass Bildung das sei, was übrigbleibt, wenn man alles Wissen
vergessen hat, doch in der Realität gilt als Ausweis von
Bildung vor allem umfangreiches Wissen, das die "Gebildeten"
oft ungeniert zur Schau stellen. Das entspricht ihrer
Tüchtigkeitsethik, während Engländer es als Angeberei
empfinden. Wissenserwerb ist mit Anstrengung verbunden. Da
geistige Anstrengung keinen Schweiß auf die Stirn treibt,
muss man sie auf andere Weise sichtbar machen, z. B. durch
eine anspruchsvolle, schwerverständliche Sprache. Das Turnen
am stilistischen Hochreck ist seit dem 19. Jahrhundert eine
Spezialität der deutschen Kultur.
Jenseits des Ärmelkanals ist es genau umgekehrt. Dort gilt
das ungeschriebene Gesetz, dass man sich geistige Anstrengung
nicht anmerken lassen darf. Adorno, ein Großmeister der
Schwerverständlichkeit, reagierte einmal auf Kritik an seinem
Gebrauch von Fremdwörtern mit einem Aufsatz, wo er schreibt:
"Versuche der Formulierung, die, um die gemeinte Sache genau
zu treffen, gegen das übliche Sprachgeplätscher schwimmen und
gar sich bemühen, verzweigtere gedankliche Zusammenhänge
getreu im Gefüge der Syntax aufzufangen, erregen durch die
Anstrengung, die sie zumuten, Wut." Wenn dieser Satz richtig
wäre, müssten sich englische Autoren aus Angst vor den Wutbürgern
in eine einfache Sprache geflüchtet haben, die in
Adornos Augen "Sprachgeplätscher" wäre. Tatsächlich ist es
aber die englische Haltungsethik, die es den Autoren
verbietet, ihre geistige Anstrengung zur Schau zu stellen,
weshalb gerade die Koryphäen eines Fachgebiets unter dem
Zwang stehen, so klar und einfach wie möglich zu schreiben,
während man einem Doktoranden stilistisches Imponiergehabe
noch durchgehen lässt. In Deutschland hingegen gilt
Schwerverständlichkeit als Ausweis geistiger Tüchtigkeit,
wobei allerdings hinzugefügt werden muss, dass inzwischen der
weltweite akademische Konkurrenzkampf so hart ist, dass
überall, und damit auch in England, angehende Wissenschaftler
gezwungen sind, ihre geistigen Muskeln auch stilistisch
spielen zu lassen. Das gilt vor allem für Geistes- und
Kulturwissenschaftler, an deren Seriosität oft gezweifelt
wird.
Der hier aufgezeigte Unterschied zwischen Tüchtigkeits- und
Haltungsethik beruht nicht auf unterschiedlichen deutschen
und englischen Genen, sondern hat sich auf Grund von
historischen Gegebenheit ausgebildet. Zu Shakespeares Zeiten,
in der Epoche des so genannten Manierismus, turnten auch die
englischen Geistesgrößen, mit Ausnahme von Francis Bacon, am
stilistischen Hochreck. Erst im 18. Jahrhundert bildete sich
hier das Ideal eines scheinbar mühelosen einfachen Stils
heraus, zusammen mit jener englischen Spezialität, die auch
im Deutschen einen englischen Namen hat, dem Understatement.
Es war das Jahrhundert, in dem England sich den Spitzenplatz
in Europa eroberte. Wer das Rennen anführt, braucht keine
üchtigkeitsethik, um sich zu noch mehr Leistung anzuspornen.
Sich selber übertreffen kann der Spitzenreiter nur dadurch,
dass er sich nicht anmerken lässt, wie anstrengend es ist, an
der Spitze zu sein. Ebendas führte zur Ausbildung des
englischen Verhaltungscodes, der seinen reinsten
stilistischen Ausdruck in den Romanen Jane Austens, der
Großmeisterin des Understatements, fand.
Ganz anders verlief die Entwicklung in Deutschland. Nach der
kurzen Aufholjagd im friederizianischen Preußen sahen sich
die Deutschen nach den napoleonischen Kriegen, wie schon
anderthalb Jahrhunderte zuvor nach dem Dreißigjährigen Krieg,
wieder am Fuße der Leiter, auf der sie zur Spitze aufsteigen
wollten. Das erforderte eine Ethik, die äußerste Anstrengung
zu einem Wert an sich erklärt, und zwar auf allen Gebieten,
in der Ökonomie ebenso wie auf den Feldern des Geistes und
der Kunst. So bildete sich das heraus, was oben beschrieben
wurde. Und es kam eine weitere deutsche Spezialität hinzu,
nämlich die Ironie des Overstatement, die keiner so genial
beherrschte wie Thomas Mann.
Es liegt nahe und scheint geboten, einen Blick auf die USA zu
werfen. Herrscht dort nicht die gleiche Ethik wie in
Deutschland? Bis zu einem gewissen Grad schon, doch mit einer
Abweichung. Während die Deutschen bereits die Anstrengung
anerkennen und den Schweiß auf der Stirn als den Lorbeerkranz
des Werktätigen empfinden, erwarten Amerikaner noch etwas
mehr, nämlich Erfolg. Zwar billigen sie jedem Gescheiterten
eine unbegrenzte Anzahl weiterer Versuche zu, doch am Ende
muss die Anstrengung von Erfolg gekrönt sein. In einem Buch
mit dem sinngemäßen Titel "Was Eltern über Schule wissen
sollten" nennt der Amerikaner Dr. Bill Elstran den
Präsidenten Abraham Lincoln als Beispiel dafür, wie jemand
innerhalb von 29 Jahren zehn schwere Niederlagen erlitt und
danach der größte Präsident der USA wurde.
Der optimistische Glaube der Amerikaner, selbst nach
zahlreichen Niederlagen am Ende Erfolg zu haben, wird aus der
ältesten Quelle ihrer nationalen Mentalität gespeist, aus dem
Puritanismus. Die Puritaner, die mit der Mayflower nach
Amerika kamen, glaubten daran, dass Gott bereits zu Beginn
der Schöpfung vorher bestimmt habe, wer erlöst und wer
verdammt sein sollte. Dieser Gott war in ihren Augen
unbestechlich. Er ließ sich weder durch Opfer noch durch gute
Taten von seinem prädestinierten Beschluss abbringen. Das
einzige, was Menschen tun konnten, war das Suchen nach
Erwältheitsbeweisen in ihrem diesseitigen Leben. Als solche
sahen sie irdischen Erfolge an; denn weshalb sollte Gott einem
Menschen Erfolg gewähren, den er für die Hölle bestimmt
hatte?
Dies ist der Motor der amerikanischen Erfolgsethik. Es ist
zugleich die schlüssigste Erklärung für die
Staatsfeindlichkeit der Amerikaner und für ihren Widerstand
gegen Obamas Gesundheitsreform. Wenn sich alle Bürger im
Wettbewerb um irdische Erwähltheitsbeweise befinden, darf der
Staat nur Schiedsrichter sein, er darf nicht selber
eingreifen und vermeintlich schwache Wettbewerber
begünstigen. Amerikaner finden es völlig in Ordnung, dass die
öffentliche Hand für Kinder, die in den Wettbewerb noch gar
nicht eingetreten sind, ein kostenloses, gut ausgebautes
Schulsystem finanziert. Sie akzeptieren auch, dass der Staat
allen Bürgern über 65 Jahren, die aus dem Wettbewerb
ausgeschieden sind, mit Medicare eine gute Krankenversorgung
anbietet. Doch würde der Staat auch noch Teilen der
Altersgruppen dazwischen die Daseinsvorsorge abnehmen, wäre
das eine Verfälschung des Wettbewerbs. Irdischer Erfolg wäre
dann kein Erwähltheitsbeweis mehr, sondern die Folge
staatlicher Fürsorge. Diese Denkweise ist der ideologische
Kern der Tea Party, die in primitiver Form an das alte
puritanische Ethos anknüpft.
Ganz anders denken und fühlen die Deutschen. Sie erwarten vom
Staat, dass er als gerechter Vater die Anstrengung seiner
Bürger anerkennt und honoriert. Das bedeutet freilich auch,
dass das Ausbleiben der Anerkennung mit Enttäuschung und
Groll quittiert wird. Hier liegt eine der Wurzeln für das,
was als German angst zu einem geflügelten Wort geworden ist.
Amerikaner kennen solche Angst nicht; denn der unbestechliche
Gott, von dem sie sich erwählt fühlen, kann sie im Diesseits
nicht enttäuschen, und der Staat kann es erst recht nicht, da
sie ihn für ein notwendiges Übel halten. Die Deutschen aber,
die vom Staat gerechtes Handeln erwarten, werden von ihm
immer wieder enttäuscht und leben deshalb in der permanenten
Erwartung von Ungerechtigkeit. Das ist übrigens auch eine
Ursache dafür, dass der Neid in der deutschen Gesellschaft
viel stärker ausgeprägt ist als in der amerikanischen.
Während die Deutschen auf staatliches Handeln fast immer mit
Enttäuschung reagieren und sich im Konkurrenzkampf oft
übervorteilt fühlen, sind sie mit sich selber meist schon
dann im Reinen, wenn sie ihr Bestes gegeben haben, auch wenn
der Erfolg ausbleibt. "Es irrt der Mensch, solang er strebt!"
heißt es am Anfang von Goethes Faust; und am Endes des
Zweiten Teils der Tragödie folgt der andere, ebenso bekannte
Satz: "Wer immer strebend sich bemüht, den können wir
erlösen". Obwohl Goethe in den Augen strenggläubiger Christen
ein Heide war, konnten sich dennoch unter dem Dach seines
Credos Katholiken mit lutherischen Protestanten vereinen;
denn beide glaubten, dass sie Gott gnädig stimmen könnten:
die einen durch gute Werke, die anderen durch guten Willen.
Insofern darf Goethe als ein Gewährsmann der deutschen
Tüchtigkeitsethik gelten. Das Wort 'tüchtig' stand bei ihm
hoch im Kurs.
Weiteres zu diesem Themenkreis findet sich in drei Büchern
des Verfassers:
Was ist deutsch? Wie die Deutschen wurden was sie sind.
Typisch englisch. Wie die Briten wurden, was sie sind.
Typisch amerikanisch. Wie die Amerikaner, wurden was sie
sind. (Alle drei im C. H. Beck Verlag, München)
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