Die Gaste
ÝKÝ AYLIK TÜRKÇE GAZETE
ISSN 2194-2668
DÝL VE EÐÝTÝMÝ DESTEKLEMEK ÝÇÝN ÝNÝSÝYATÝF
(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)


  • SONRAKÝ YAZI
  • ÖNCEKÝ YAZI
    Ausgabe 5 / Januar-Februar 2009



    Die Gaste 5. Sayý / Ocak-Þubat 2009

     
     

    Die Gaste

    ÝKÝ AYLIK TÜRKÇE GAZETE

    ISSN 2194-2668

    DÝL VE EÐÝTÝMÝ DESTEKLEMEK ÝÇÝN
    ÝNÝSÝYATÝF

    Yayýn Sorumlusu (ViSdP):
    Engin Kunter


    diegaste@yahoo.com

    Erziehung und Bildung:
    Motoren von Auslese
    und sozialer Ungleichheit
    (Seçiciliðin ve Toplumsal Eþitsizliðin Devindiricisi)


    Prof. Dr. Armin BERNHARD
    (Universität Duisburg-Essen)




    Die BRD ist eine Gesellschaft, in der soziale Ungleichheit ein zentrales Ordnungsmuster der gesellschaftlichen Verhältnisse darstellt. Ungleich verteilt sind die Chancen auf ein Leben in Selbstbestimmung und ökonomischer Sicherheit durch eine disparate Verteilung von Besitz, Vermögen, Einkommen, Macht und Autorität. Dass Mitglieder der gesellschaftlichen Unterschicht und arme Menschen nicht die gleichen Gesundheitsstandards genießen können und ihre Lebenserwartung weit niedriger ist als die der Mitglieder privilegierter Gesellschaftsschichten, kennzeichnet nur ein Indiz für den Skandal gesellschaftlicher Ungleichheit. Erziehung und Bildung sind an dieser Ungleichverteilung gesellschaftlicher Lebenschancen grundlegend beteiligt: In ihrer spezifischen Anlage und in ihrem Zuschnitt entscheiden sie über die Wahrnehmung dieser Lebenschancen entlang der Linien von Klasse und Schicht wesentlich mit. Erziehung und Bildung sind aber nicht nur in ihrer Qualität gesellschaftlich ungleich verteilt: Sie reproduzieren zudem das System sozialer Ungleichheit, indem sie die Menschen mit denjenigen Subjekteigenschaften ausstatten, die für ihre Klasse oder Schicht typisch sind. In der Struktur des bundesrepublikanischen Bildungssystems wirkt dabei unterschwellig ideologisch noch ein Begriff von Begabung nach, der Begabung als Naturgröße fasst und den verschiedenen Gesellschaftsschichten unterschiedliche Begabungspotentiale zuschreibt. Entgegen allen politischen Beteuerungen wird die gesellschaftlich hergestellte Bildungsungleichheit nach wie vor mit diesem naturalistischen Begabungsbegriff legitimiert.

    Nicht erst die publizistisch überhöhte PISA-Studie hat den Skandal des engen Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg in die öffentliche gesellschaftliche Diskussion eingebracht. Bereits in den 1910er und 1920er Jahren gibt es umfangreiche Studien zur Situation und Sozialisation von Arbeiterkindern und die konkreten Umstände, die ihren Misserfolg in der bürgerlichen Institution Schule bedingen. Im deutschsprachigen Raum sind es vor allem die sozialistischen Pädagogen Otto Rühle und Otto Felix Kanitz, die die bedrückenden Verhältnisse von Kindern aus proletarischen Gesellschaftsschichten analysieren. Mit ihren Büchern „Das proletarische Kind“ (Rühle 1911), „Die Seele der proletarischen Kinder“ (Rühle 1925) und „Das proletarische Kind in der bürgerlichen Gesellschaft“ (Kanitz 1925) machen die beiden Pädagogen auf die katastrophalen Lebensbedingungen von Arbeiterkindern aufmerksam, deren Merkmale Hunger, Entbehrung, Ausbeutung, Verwahrlosung, starke gesundheitliche Beeinträchtigungen und extrem beengte Wohnverhältnisse sind. Otto Felix Kanitz spricht von der „doppelten Bedrückung“, denen die Sozialisation des proletarischen Kindes unterworfen ist. Diese Bedrückung resultiert einerseits aus der wirtschaftlichen angespannten Situation der Klasse, in die das Kind hineingeboren wurde, andererseits wird sie durch die patriarchalisch-repressiven Erziehungsstile und Umgangsformen in der Arbeiterfamilie hervorgerufen, die eine Entwicklung zur Autonomie unterlaufen. Die durch die Arbeitsbedingungen und die Lebens- und Wohnverhältnisse bedingten repressiven Erziehungsstile bauen eine nahezu unüberwindbare Barriere für den Bildungserfolg in der Schule auf. Die Benachteiligung des proletarischen Kindes ist, wie Otto Rühle herausarbeitet, auf die strukturell bedingte Herabsetzung derjenigen geistigen Fähigkeiten zurückzuführen, die für den Bildungserfolg konstitutiv sind: Aufnahmefähigkeit, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Schnelligkeit im Gedankenablauf, Urteilskraft, Ausdrucksfähigkeit der Gedanken durch Worte. Diese Beeinträchtigung der geistigen Fähigkeiten armer Kinder wird in der Schule endgültig bestätigt, indem diese in der eigens für sie bestimmten Volksschule in überfüllten Klassen mit einem Minimalunterricht durch schlecht bezahlte Lehrerinnen und Lehrer abgespeist werden.

    Unter dem Einfluss der außerparlamentarischen Opposition und der studentischen Protestbewegung entsteht Ende der 1960er Jahre eine sozialwissenschaftliche Forschungsrichtung, die das Thema der sozialen Ungleichheit in den Erziehungs- und Bildungsvoraussetzungen politisiert: die schichtenspezifische Sozialisations- und Bildungsforschung. In ihrem Rahmen wird untersucht, was der französische Soziologe Pierre Bourdieu analytisch mit dem Begriff des kulturellen Kapitals bezeichnet hat: Welche Gründe führen dazu, dass trotz Bildungsexpansion die gesellschaftliche Ungleichheit in der Bildung nicht abgebaut werden kann? Welche Mechanismen in der familialen Sozialisation unterschiedlicher Gesellschaftsklassen schaffen die Voraussetzungen für Bildungserfolg bzw. –misserfolg? Durch welche Strukturen und Mechanismen der institutionellen Bildung werden die bereits bestehenden Ungleichheiten in den Bildungsvoraussetzungen fortgeführt? Die schichtenspezifische Sozialisations- und Bildungserforschung schließt jedoch auch eine gesellschaftspolitische Frage ein: Durch welche Maßnahmen kann die Bildungsungleichheit überwunden werden? Diese Frage impliziert die Kritik am bestehenden dreigliedrigen Schulsystem in der BRD, das die Schülerinnen und Schüler gemäß ihrer sozialen Herkunft sortiert. Mit Blick auf das politische Ziel der Herstellung von Chancengleichheit in der Bildung stehen die äußeren und inneren Strukturen der gesellschaftlichen Klassenschule zur Disposition.

    Insbesondere aus dem systematischen Vergleich der Sozialisationsbedingungen von Arbeiterkindern mit denen von Kindern aus der gesellschaftlichen Mittelschicht gewinnt die schichtenspezifische Sozialisations- und Bildungsforschung ihre Einsichten in die Reproduktion sozialer Ungleichheit in der Bildung. Auch in diesem Forschungskontext wird dieser bereits von der sozialistischen Pädagogik aufgedeckte Zusammenhang zwischen der Stellung der Eltern in der Produktions- und Arbeitswelt, ihrem Erziehungsstil und den Persönlichkeitsstrukturen ihrer Kinder herausgestellt. In Arbeiterfamilien ist der Handlungsradius der Eltern im Hinblick auf die Ausstattung ihrer Kinder mit bildungsbezogenen Fähigkeiten im Vergleich zu Familien der Mittelschicht systematisch eingeschränkt. Diese Einschränkungen ergeben sich aus restriktiven Arbeitsbedingungen, die wiederum einen Erziehungsstil begünstigen, der die Freiheits- und Handlungsspielräume der Kinder erheblich einengen kann. Die Dimensionen, in denen die Benachteiligung von Kindern aus unteren Sozialschichen grundgelegt worden sind: die familialen Binnenverhältnisse, die Sprache, der Bildungsanspruch, die Leistungsmotivation, die Persönlichkeitskonstellation. Auf die vom schulischen Interaktions- und Kommunikationssystem verlangten kognitiven, emotionalen und sprachlichen Anforderungen ist das Arbeiterkind weit weniger vorbereitet als das Kind aus Angestellten- oder Beamtenfamilien.

    In Nuancen, nicht aber grundsätzlich hat sich die Bildungsungleichheit in der BRD verändert, besser gesagt: verschoben (Fahrstuhleffekt). Die PISA-Studie hat den lange bereits erkannten Skandal des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Bildungserfolg noch einmal bestätigt und insbesondere auch die strukturelle Benachteiligung von Migrantenkindern im bundesrepublikanischen Bildungssystem herausgestellt. Doch fehlt der politische Wille, über eine Veränderung der Schulstrukturen und der pädagogischen Arbeit Bildungsgerechtigkeit zu schaffen, eine Intention, die in einer Gesellschaft, die massiv auf Selektion setzt, ohnehin eine Illusion bleiben muss. Die Maxime der Auslese erfordert eine frühe Sortierung, den Raub an menschlichen Verwirklichungsmöglichkeiten. Soziale Bildungsungleichheit kann nur in einer veränderten Schulstruktur bearbeitet werden, da ein hoch selektives Bildungswesen Bildungsungleichheit geradezu hervorbringt. Ein langes gemeinsames Lernen von Kindern aller Gesellschaftsschichten ist erforderlich, um die Selektionsschwellen aufzuheben und eine für alle gemeinsame Bildungsgrundlage zu schaffen. Doch wird die Veränderung der Schulstruktur allein nicht hinreichen, da eine Einheitsschule allein nicht in der Lage sein wird, mehr Chancengleichheit zu garantieren, solange das kulturelle Kapital für Kinder schon lange geschaffen ist, bevor sie in die Schule eintreten. Eine gegenprivilegierende Bildungspolitik muss durch eine Gesellschaftspolitik flankiert werden, die die Wirksamkeit schichtenspezifischer Bildungsbenachteiligung bereits in verschiedenen familialen und außerfamilialen Feldern bekämpft.