Das Empörungspotential hat einen sehr nahe liegenden, in den nationalen Mehrheitsgesellschaften oft zu wenig bekannten Grund: Mit zunehmender Integration wächst, vor allem in der zweiten und dritten Generation, die mentale Verletzbarkeit durch die Erfahrung oder begründete Befürchtung gruppenbezogener, insbesondere wirtschaftlicher und sozialer Benachteiligung. Anders gewendet: Gerade die Verletzbarkeit durch so begründete oder auch nur als so begründet empfundene gruppenbezogene Zurücksetzungen und Benachteiligungen ist ein Zeichen von mental fortgeschrittenen Integrations- und Assimilationsprozessen.
Im Schatten der Weltwirtschaftskrise ist es stiller geworden um die Themen Migration und Integration – abgesehen von kurzfristigen, aber auf fatale Weise folgenreichen Strohfeuern wie der Diskussion um die teils fragwürdig präsentierten, teils fragwürdig kolportierten Ergebnisse der Studie ‚Ungenutzte Potentiale‘ des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung vom Januar 2009. Das politische Ausblenden der Themen Migration und Integration in der Krise ist falsch; denn in der Krise verschärfen sich Probleme der Integration verstanden als Partizipation insbesondere in einem Zentralbereich des gesellschaftlichen Lebens, nämlich der Teilhabe am Arbeitsmarkt als Voraussetzung zu einer selbstbestimmten Lebensführung.
Der Zuwanderungsrat hat in seinem Bericht 2005 eine operationale Integrationsdefinition vorgeschlagen, die weithin, auch von der Bundesregierung, übernommen worden ist und mithilfe derer Integrationsprozesse in Teilbereichen beobachtbar und im Rahmen des Möglichen mithilfe von Indikatoren meßbar werden können: Integration ist danach die möglichst chancengleiche Teilhabe an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, also an Wirtschaft und Arbeitsmarkt, Erziehung, Bildung und Ausbildung, Wohnen und Wohnumfeld. Das gleich gilt für die Teilhabe an den Fürsorge- und Schutzsystemen für Gesundheit und Recht u.a.m. Integration in diesem hier angesprochenen pragmatischen Sinne meint also Partizipation, Integrationsförderung meint demzufolge Partizipationsförderung.
Bestandsaufnahme: Wir haben jahrzehntelang Menschen aus bildungsfernen Milieus für den Arbeitsmarkt in Deutschland angeworben. Wir haben aber auch viele qualifizierte und aufgrund von Sprachproblemen nicht adäquat einsetzbare bzw. dem aktuellen Bedarf am Arbeitsmarkt folgende Zuwanderer in unqualifizierten Beschäftigungen fehlplatziert. Hoch war die durch Anwerbung gesteuerte Zuwanderung aus bildungsfernen Milieus, die sich intergenerativ über die Heiratsmigration fortgesetzt hat.
Der nachlässige Umgang mit dem Begabungs- und Qualifikationspotential aus diesen zugewanderten bildungsfernen Milieus ist ein folgenschweres Problem mit geradezu biblischen Schleifspuren. Seine Folgen schwächen uns wirtschaftlich und im Blick auf die Sozialsysteme bis ins dritte und vierte Glied der migratorischen Generationenfolge. Das hat zuletzt 2008 die Bertelsmann-Studie ›Gesellschaftliche Kosten unzureichender Integration von Zuwanderinnen und Zuwanderern in Deutschland‹ gezeigt.
Damit nicht genug: Die Folgen unzureichender Integration können schon mittelfristig auch den sozialen Frieden in der Einwanderungsgesellschaft gefährden; denn: Die dauerhafte Sicherung des sozialen Friedens in einer Einwanderungsgesellschaft hängt entscheidend ab von dem Gelingen von Integration im erwähnten Sinne möglichst gleicher Teilhabechancen.
Demgegenüber beleuchten die im deutschen Bildungsbericht, aber auch auf OECD-Ebene vorgelegten Daten zur Integration der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland ein dramatisches Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Partizipationschancen von Mehrheitsgesellschaft und Zuwandererbevölkerung. Das erzeugt eine noch latente, aber nach einschlägigen Anzeichen ständig wachsende soziale Spannung. Dahinter steht auch die in Deutschland wie in keinem anderen europäischen Einwanderungsland so deutliche Vererbung der sozialen Startnachteile auf den Ebenen von Erziehung, Bildung, Ausbildung und Erwerbschancen.
In der öffentlichen und politischen Diskussion über Mehrheiten, Minderheiten und Integrationsfragen in Deutschland hingegen dominiert die einseitige Konzentration auf abschreckende Stichworte wie ›Ehrenmorde‹, ›Zwangsheiraten‹, ›Genitalverstümmelungen‹ und ›Parallelgesellschaften‹ als selbst gewählte ›Ghettosituationen‹, organisiert in ›ethnischen Kolonien‹ als Zentren von Kriminalität und häuslicher Gewalt. Kein Zweifel: Es gibt diese Probleme und man sollte sie nicht schönzureden suchen. Wir brauchen vielmehr klare Antworten darauf.
Wir brauchen klar Antworten auch auf die Frage, warum es scheinbar gerade bestimmte Zuwanderergruppen sind, insbesondere ‚die Italiener‘ und ‚die Türken‘, deren zum Teil mit fragewürdigen Schein-Indikatoren gemessene Defizite im Integrationsprozeß angeblich am stärksten sind. Zum Teil schiefe bis klar falsche Antworten darauf wurden in der erwähnten Studie des Berlin-Instituts unter dem Stichwort ‚Verschiedene Herkunft - unterschiedlicher Erfolg‘ mit der möglicherweise nicht absichtsvoll betriebenen, aber doch fahrlässig in Kauf genommenen Kulturalisierung von sozialen Problemen gegeben. Das hat, wie Mediendiskussion sogleich gezeigt hat, jederzeit abrufbare Vorurteile aufs Neue mit einschlägigem Stoff angereichert, denunziatives Potential in Umlauf gebracht und damit die Integrationsdiskussion in diesem Land erkennbar zurückgeworfen hat.
Das zentrale Integrationsproblem in Deutschland ist die Benachteiligung der Zuwandererbevölkerung in Bildung, Ausbildung und beruflicher Qualifikation bzw. Weiterqualifikation. Sie bildet die Grundlage für eine oft unverschuldete, aber lebenslang wirkende Benachteiligung, aus der sich viele Anschlussprobleme ergeben. Diese Benachteiligung von Migranten in Bildung und Ausbildung führt, auch in anderen europäischen Staaten, zunehmend zu aggressiven Empörungen. Sie wachsen mit dem Anteil der sozialen Verlierer, der mit dem Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung steigt. Und sie gewinnen an Schärfe in dem Maße, in dem sich die Betroffenen Ihrer Lage als soziale Verlierer bewusst werden.
Das Empörungspotential hat einen sehr nahe liegenden, in den nationalen Mehrheitsgesellschaften oft zu wenig bekannten Grund: Mit zunehmender Integration wächst, vor allem in der zweiten und dritten Generation, die mentale Verletzbarkeit durch die Erfahrung oder begründete Befürchtung gruppenbezogener, insbesondere wirtschaftlicher und sozialer Benachteiligung. Anders gewendet: Gerade die Verletzbarkeit durch so begründete oder auch nur als so begründet empfundene gruppenbezogene Zurücksetzungen und Benachteiligungen ist ein Zeichen von mental fortgeschrittenen Integrations- und Assimilationsprozessen.
Deren Nichtakzeptanz durch die Mehrheitsgesellschaft führt in der Einwandererbevölkerung, kuscheldeutsch also in der Bevölkerung mit Migrationshintergrund zunehmend zu zwei verschiedenen Reaktionsformen – an der Spitze und an der Basis der Sozialpyramide: An der Spitze der Sozialpyramide, also bei der nachgewachsenen Einwandererelite, also der neuen Elite mit Migrationshintergrund, die den harten Weg über die für sie besonders hohen Hürden des deutschen Bildungssystems geschafft haben, wächst die Neigung zur Abwanderung: Die TASD-Studie von future.org unter Leitung von Kamuran Sezer, zu deren Publikation ich das Vorwort geschrieben habe, kommt zu dem Ergebnis, daß knapp 40 Prozent der befragten Studierenden türkischer Herkunft sich ernsthaft mit dem Gedanken tragen, nach dem Abschluß des Studiums in die Heimat der Eltern, also in die Türkei, abzuwandern, weil sie in Deutschland ‚keine Heimat‘ gefunden zu haben glauben oder weil sie trotz der erbrachten gleichrangigen Leistungen mit gruppenbezogener Benachteiligung am Arbeitsmarkt rechnen.
An der Basis der Sozialpyramide, bei unqualifizierten und unzureichend integrierten jungen Menschen mit Migrationshintergrund wächst über die mentale Verletzbarkeit durch Nichtakzeptanz hinaus bereichsweise die Aggressivität untereinander und eine ohnmächtige, auch durch Sozialneid bestimmte Mischung von Frustration, Wut und Hass sozialer Verlierer mit Migrationshintergrund gegenüber vermeintlich sozialen Gewinnern aus der sich scheinbar abschließenden Mehrheitsgesellschaft.
Ich sehe hier also eine gewisse Paradoxie, eine Art Integrationsparadoxon in Deutschland: einerseits eine zunehmende pragmatische Verwaltung von und Haltung zu Migrations- und Integrationsfragen auf allen Ebenen; andererseits eine wachsende soziale Polarisierung und Spannung, die geeignet sein könnte, den bislang gewahrten sozialen Frieden in der Einwanderungsgesellschaft zu gefährden – gerade in Zeiten der Krise, die bekanntlich die Schwächsten zuerst und am härtesten trifft; und das sind insbesondere geringer qualifizierte Arbeitsuchende mit Migrationshintergrund.
In Sachen nachholender Integrations- und Partizipationsförderung ist also keine Zeit zu verlieren. Und die begleitende Integrationsförderung im Sinne des Zuwanderungsgesetzes muss darauf zielen, dass später nicht wieder in großem Umfange nachholende Integrationsförderung als Folge von vorausgegangenen Versäumnissen nachgeschoben muss.
Verfasser: Klaus J. Bade, Dr. phil. habil., o. Univ. Prof. em. für Neueste Geschichte (Universität Osnabrück, heute in Berlin), geb. 1944. Migrationsforscher, Publizist, Politikberater. Begründer des Osnabrücker ›Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien‹ (IMIS) und des bundesweiten Rates für Migration (RfM); Fellowships/Gastprofessuren: Center for European Studies, Harvard Univ. 1976/77; St. Antony's College, Oxford Univ. 1985; Wissenschaftskolleg zu Berlin 2000/01; Institute for Advanced Study der Niederländischen Akademie der Wissenschaften (NIAS) 1996/97 und 2002/03; Leiter deutscher und internationaler wiss. Forschungsprojekte; Mitglied zahlr. wiss. Vereinigungen, Kommissionen, Kuratorien und Beiräte. Autor und Herausgeber von rund 40 Büchern zur Kolonialgeschichte, zur Sozial-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte sowie zur Entwicklung von Bevölkerung und Wanderung in Geschichte und Gegenwart (www.kjbade.de).
>Zum Thema vom Verfasser zuletzt: Klaus J. Bade, Leviten lesen: Migration und Integration in Deutschland. Abschiedsvorlesung in der Aula des Schlosses zu Osnabrück am 27.6.2007 (Osnabrücker Universitätsreden, H. 1), Göttingen 2007 (auch in: IMIS-Beiträge, 31/2007, Osnabrück 2007 (pdf in www.kjbade.de) ; ders., Versäumte Integrationschancen und nachholende Integrationspolitik, in: ders./Hans-Georg Hiesserich (Hg.), Nachholende Integrationspolitik und Gestaltungsperspektiven der Integrationspraxis. Mit einem Beitrag von Bundesinnenminister Schäuble (Beiträge der Akademie für Migration und Integration, H. 11), Göttingen 2007, S. 21–95; ders, Nationaler Integrationsplan und Aktionsplan Integration NRW: Aus Erfahrung klug geworden?, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR), 27. 2007, H. 8, S. 307–315; als historische Orientierungshilfe für aktuelle Fragen von Migration und Integration: ders. (Hg. zus. m. P.C. Emmer, L. Lucassen, J. Oltmer), Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, dte. Ausg. Wilhelm Fink Verlag/Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2007, 1.156 S. [engl. Ausg. Cambridge UP 2010].
|