Die Gaste, Ausgabe 13 / Juli-Oktober 2010

Yukardan Aþaðýya Sýnýf Savaþýmý
Türkçe


Prof. Dr. Franz HAMBURGER
Mainz Üniversitesi Eðitimbilimleri Enstitüsü





    Die Diskussion über das Ergebnis des Volksentscheids am 18.7.2010 in Hamburg und seine Folgen ist schnell abgeebbt und in den üblichen Merkwürdigkeiten des „Sommerlochs“ untergegangen. Möglicherweise ist auch bewusst geworden, dass dieser Volksentscheid Illusionen zerstört hat, die für den Glauben an eine demokratische Ordnung zentral sind oder gewesen sind. Insofern schützt sich die veröffentlichte Meinung gegen eine Realität, die ihr die Grundlagen entzieht; andere Auffassungen der veröffentlichten Meinung aber genießen mit großem Zynismus das Ergebnis dieses Entscheids. Das Besondere der Hamburger schwarz-grünen Koalition ist ja gewesen, dass sie sich für eine Verlängerung der für alle Kinder gemeinsamen Grundschule (abgesehen davon, dass es auch in Hamburg katholische Grundschulen für die „bürgerlichen“ Kinder gibt) von vier auf sechs Jahre stark gemacht hat. Mit diesem Element ihrer Schulreform (andere Elemente wie die Ersetzung des dreigliedrigen durch ein zweigliedriges Schulsystem ab der fünften Klasse ist vom Volksentscheid nicht betroffen) hatte die Koalition versucht, die vielfach bestätigten Erkenntnisse über die soziale Selektivität des dreigliedrigen Schulsystems in Politik umzusetzen, um ein weniger selektives gemeinsames Lernen, das vor allem den benachteiligten Schüler zugute kommen sollte, zu ermöglichen. Welche bedrohlichen Botschaften sind mit dem Volksentscheid verbunden, so dass er schnell von der Tagesordnung verschwand?
   
    Ambivalenz des Volksentscheids
    Volksentscheide, Bürgerbegehren und andere Formen der direkten Beteiligung werden in der Regel demokratisch begründet. Der Souverän soll nicht nur alle vier bis fünf Jahre seine Macht benutzen dürfen, sondern öfter und vielfältiger. Die Parole „Wir sind das Volk“ hat diesen Auffassungen Auftrieb gegeben. Vergessen wird, wenn diese Forderungen naiv vertreten werden, dass nicht nur im üblichen Wahlkampf die billigen Parolen „ziehen“ und demagogische Postulate freien Lauf haben, insbesondere die Medienöffentlichkeit ihren eigenen Gesetzen folgt. Deshalb ist es zu einfach, „direkte Demokratie“ zu fordern. Mehrheitsentscheidungen sind Mehrheitsentscheidungen und verdienen deshalb demokratische Legitimation, aber mit welchem Preis für Minderheiten sie zustande gekommen sind, das steht möglicherweise auf einem anderen Blatt.
    In der Schweiz beispielsweise gibt es genau vier Minarette an Moscheen und dennoch(vielleicht auch deshalb, weil über ein tatsächliches Phantom abgestimmt wurde und Panik machende Angst am besten mit Phantomen erzeugt werden kann) war es in einem Volksentscheid möglich, eine ungeheuere Islamophobie zu nutzen und zu schüren, um den Bau von Minaretten zu verbieten. Auch in Hamburg wurde die Propaganda gegen die sechsjährige Grundschule mit Phantomen betrieben, beispielsweise der von Chefärzten beschworenen Verschlechterung der medizinischen Versorgung, wenn „gute Mediziner“ nicht mehr nach Hamburg kämen, weil ihre Kinder eine sechsjährige Grundschule besuchen müssten. Das Infame dieser Agitation war ihre Scheinheiligkeit – Sorgen um die Allgemeinheit zu reklamieren und gleichzeitig diejenigen nicht explizit zu nennen, gegen die sie sich richtete, nämlich alle die Kinder, die angeblich den Lernfortschritt des eigenen Nachwuchses beeinträchtigen. Es ist also auch beim Volksentscheid möglich, dass machtvolle Interessen, die insbesondere ihre Macht für den Zugang zur Öffentlichkeit nutzen können, sich rücksichtslos durchsetzen.
    Für welche Gruppen in der Gesellschaft das Schlagwort von der „Ellenbogengesellschaft“ zutrifft, ist überdeutlich geworden – das soll aber nicht länger öffentlich diskutiert werden. Jedenfalls sorgen dafür die unsichtbaren Machtprozesse.
   
    Bildung in der Demokratie?
    Seit der ersten PISA-Studie wird in Deutschland über die hohe soziale Selektivität des drei-/viergliedrigen (die Förderschulen werden in der Regel nicht berücksichtigt) Schulsystems diskutiert. Die Selektivität ist höher als in den meisten modernen Staaten und wird mit der ungewöhnlichen Struktur des Bildungssystems in Verbindung gebracht – mit guten Gründen. Die permanente Wiederholung der Forderung nach mehr individueller Förderung verstärkt gerade diese Struktur und immunisiert sie. Dennoch gibt es einen demokratischen Konsens, dass die sozial „vererbten“ Ungleichheiten nicht das Schicksal der Kinder determinieren sollen. Chancengleichheit, selbst die schon kastrierte Forderung nach Chancengerechtigkeit ist basale Legitimation eines demokratischen Gemeinwesens. Deshalb haben fast alle Politiker regelmäßig die ungerechte Selektivität kritisiert und sich damit demokratisches Ansehen erworben – ganz unabhängig davon, ob sie an diesem Zustand etwas ändern wollten oder konnten. Das Besondere der Hamburger Konstellation war nun, dass die CDU, üblicherweise ein Garant für das zwei- oder dreigliedrige Schulsystem und seit den Hessischen Schulkämpfen um Gesellschaftslehre und Gesamtschule in den 1970er Jahren schulpolitische Schlange für das reformwillige SPD-Kaninchen, eine Verlängerung der Grundschule und damit eine Verlängerung der gemeinsamen Lernzeit für alle Kinder unterstützte.
    Diese reformpolitische Revolution hätte eine neue Bewegung in der Schulpolitik in Gang bringen können. Dem haben die Bürger der reichen Stadtteile in Hamburg, die sich am Volksentscheid doppelt so zahlreich beteiligt haben wie die der armen Stadtteile, einen Riegel vorgeschoben. Die Grünen haben die Kröten der schwarz-grünen Koalition geschluckt, die Kröten der CDU haben die mobilisierten Massen der Reichen und auch der Mittelschicht, die ihre Bildungsinteressen aktiv gegen die Unterschicht vertritt, wieder ausgespuckt. Die Macht der organisierten Mittel- und Oberschicht scheint so stark, dass nun auch wieder die CDU – wie schon immer – vor „Experimenten“ warnen und die benachteiligten und die aufstiegsorientierten bzw. angesichts von Harz IV abstiegsängstlichen Mittelschichten mit der Ideologie von der individuellen Förderung überziehen wird – denn sie braucht ihre Wählerstimmen.
    Bornierte Standesinteressen haben sich selbst gegen eine Auffassung durchgesetzt, die eine gewisse Systemrationalität für sich in Anspruch nehmen konnte. Sie besteht darin, dass eine modernisierte Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft sich keinen großen Anteil an nicht gebildeten Bürgern erlauben kann, die dauerhaft an den produktiven und reproduktiven Prozessen der Gesellschaft nicht partizipieren können. Es gehört also nur funktionales Denken dazu, den Hamburger Volksentscheid kritisch zu betrachten, man braucht noch nicht einmal die Berufung auf demokratische Werte zu einer solchen Betrachtung. Eine Politik, die „das Ganze“ im Auge hat, erste recht eine, die demokratische Prinzipien auch in der Bildung durchsetzen will, ist schwerer geworden.
   
    Bildung und der Migrationshintergrund
    Seit der ersten PISA-Studie wird im Zusammenhang mit Bildungsbenachteiligung insbesondere der „Migrationshintergrund“ bemüht. Am Anfang haben ganz Schlaue noch versucht, die „Ausländerkinder“ aus den Ergebnissen „herauszurechnen“, weil sie glaubten, den deutschen Bildungschauvinismus dadurch retten zu können (man darf nicht vergessen, dass PISA bis heute eine starke nationale Kränkung verursacht hat, weil das bildungsbürgerliche Bewusstsein vom Thron des gymnasialen Mythos gestürzt wurde), doch zeigte der internationale Vergleich schnell, dass die anderen Staaten auch bei der Förderung der eingewanderten Kinder intelligenter gehandelt haben und handeln. Dennoch ist die öffentliche politische Rede eng an das Muster gebunden, dass die Bildungsbenachteiligung insbesondere mit dem Migrationshintergrund zusammenhänge.
    Die ständige Verwendung dieses Musters leistet dreierlei: Erstens kann die demokratische Kritik an der Benachteiligung delegitimiert werden, denn die Benachteiligung betreffe ja nur oder vor allem die nach wie vor nicht richtig zur Gesellschaft gehörenden Menschen mit Migrationshintergrund. Zweitens wird dem Reformdruck erheblich Wind aus den Segeln genommen, denn die Mehrheit ohne Migrationshintergrund braucht sich nicht ernsthaft für eine Minderheit mit einem solchen Hintergrund einzusetzen. Wenn also Benachteiligung im Bewusstsein der Menschen mit dem Migrationshintergrund verbunden wird, geraten die ökonomischen und sozialen Ungleichheiten aus dem Bewusstsein. So brauchten die Gegner der Hamburger Bildungsreform ihre ausländerfeindlichen Einstellungen überhaupt nicht zum Ausdruck bringen – wenn sie über Kinder sprachen, die angeblich den Lernfortschritt beeinträchtigten, wusste ja jeder, was gemeint war. Drittens aber leistet die ständige Verwendung des Musters „Bildungsbenachteiligung und Migrationshintergrund sind eins“ den Anschein der sozial engagierten Auffassung, die politisch und praktisch nichts kostet, aber öffentliche Reputation verspricht.
    Fatal ist nun, dass auch diejenigen, die für sich die Motivation beanspruchen, ernsthaft für eine Bildungsreform der Benachteiligten mit und ohne Migrationshintergrund eintreten zu wollen, mit ihrer öffentlichen Anklage das wohl vertraute Muster stabilisieren. Denn nicht wie und mit welcher Intention etwas öffentlich thematisiert wird, wirkt, sondern was welche Assoziationen auslöst – das hat uns Altmeister Luhmann überzeugend gelehrt. Beispielsweise benötigen Jugendliche mit Migrationshintergrund wesentlich bessere Noten, um die gleichen Chancen auf einen Ausbildungsplatz zu haben wie die Jugendlichen ohne Migrationshintergrund – denn diejenigen, die über die Einstellung entscheiden, lesen üblicherweise keine Forschungsberichte, sondern die Zeitung. Und in dieser lesen sie regelmäßig von den leistungsmindernden Effekten des Migrationshintergrunds. Warum sollten sie sich also einen solchen Hintergrund in die Lehrwerkstatt holen.
    Die „Integrationsbeauftragte“ der Bundesregierung wird auf jeden Fall weiterhin von der „dramatischen“ Benachteiligung der Schulabgänger mit Migrationshintergrund sprechen. Die Persistenz des Musters sichert die Dauerhaftigkeit seiner Wirkung – das war beim Bild des „schlechten Schülers“ schon einmal so. Gefährlicher wäre es, von den Umständen zu sprechen, die den schulischen Misserfolg von Schülern mit und ohne Migrationshintergrund gleichermaßen hervorrufen; eine solche Rede würde Ungerechtigkeiten thematisieren müssen. Um freilich dies erreichen zu können, hilft nur, dass der Migrationshintergrund als identifizierende Kategorie auf dem berühmten Abfallhaufen der Geschichte landet.
    Die Mehrheit des Volksentscheids in Hamburg hat unmissverständlich klar gemacht, mit wem sie etwas zu tun haben will und mit wem nicht, genauer: mit wem ihre Kinder gemeinsam lernen dürfen und mit wem nicht. Damit haben sie einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass auch in Zukunft die Reichen reicher und die Armen ärmer werden. Denn Bildung entscheidet über unsere Zukunft – so sagt man gern. Aber wer mit dem „wir“ gemeint ist, das von seiner Zukunft spricht, ist auch klarer geworden. Bildungspolitik in der Demokratie ist komplizierter geworden; in der Wissensgesellschaft tobt der Klassenkampf um die Bildung.