Die Gaste, Ausgabe 16 / März-April 2011

Frühkindliche Sprachförderung im Kontext von Mehrsprachigkeit

[Çokdillilik Kavrayýþý Baðlamýnda Erken Yaþta Dil Desteði]


Jun. Prof. Dr. Drorit LENGYEL
Universität zu Köln



    Seit der Veröffentlichung der Ergebnisse der ersten PISA Studie in Deutschland im Jahr 2001 – ist die frühkindliche Sprachförderung ein zentrales Thema in Öffentlichkeit, Bildungspolitik und Fachkreisen. Die für das deutsche Schulsystem niederschmetternden Ergebnisse der Studie, in der die Lesekompetenz 15-jähriger Schülerinnen und Schüler getestet wurde, führten zu einer Reihe von Reformbestrebungen im Bildungssystem, viele davon im Elementarbereich. Ein Schwerpunkt wurde dabei auf die Stärkung der kindlichen Sprachkompetenz gelegt, besonders von Kindern mit Migrationshintergrund, die sich Deutsch als zweite Sprache aneignen, die also in ihrer Lebenswelt mit mehr als einer Sprache aufwachsen. Zugleich wurde der Betreuungs- und Erziehungsauftrag in elementarpädagogischen Institutionen um einen Bildungsauftrag für Kinder unter sechs Jahren erweitert und ein Funktionswandel von Betreuungseinrichtungen hin zu Bildungsinstitutionen eingeleitet, den auch die Bildungspläne der Bundesländer widerspiegeln. 1 Im Folgenden soll die Sprachförderarbeit der letzten zehn Jahre resümierend betrachtet und aufgezeigt werden, vor welchen Herausforderungen die pädagogische Praxis heute steht.
   
    Frühkindliche Sprachförderung als Deutschförderung?
   
    Betrachtet man die Aktivitäten in der frühen Sprachförderung der letzten zehn Jahre so steht die Förderung der Einsprachigkeit, genauer die Deutschförderung, im Vordergrund. Jampert u.a. (2007) zeigen bspw. in einer umfassenden Recherche zu den sprachlichen Bildungsangeboten für Drei- bis Sechsjährige, dass die Aufwertung der frühkindlichen Sprachförderung fast ausschließlich zu Aktivitäten zur Deutschförderung geführt hat. Ausnahmen sind selten zu finden, z.B. in bilingualen Kindertageseinrichtungen, die eine Migrantensprache als Partnersprache neben dem Deutschen etablieren2 oder in Konzepten, die mit Material, in dem Geschichten, Lieder, Verse und Reime in verschiedenen Sprachen dargeboten werden, spielerisch die Mehrsprachigkeit der Kinder einbinden und eine interkulturelle Rahmenkonzeption aufweisen. 3 Die Konzentration auf eine Sprache zeigt sich besonders bei Aktivitäten zur pädagogischen Sprachdiagnostik in der frühen Kindheit, die sich auf die Feststellung des Sprachstandes im Deutschen konzentrieren. 4
    Gogolin5 hat herausgearbeitet, dass die Reduktion auf eine Sprache – die Sprache der Mehrheitsgesellschaft – anstelle einer mehrsprachigen Erziehung und Bildung auf einer traditionellen Abwehrhaltung von Mehrsprachigkeit beruhe, die sich im 19. Jahrhundert im Zuge der Nationalstaatenbildung verankert habe. Den Bildungsinstitutionen komme beim Erhalt dieser vermeintlich nationalen Einsprachigkeit die nicht unwichtige Aufgabe zu, das monolinguale, am nationalstaatlichen Konzept orientierte sprachliche Selbstverständnis durchzusetzen. Auch wenn dies zuallererst die Institution Schule betrifft, wird die Aufgabe des ausschließlichen Deutschlernens zunehmend bereits auf die elementarpädagogischen Institutionen ausgeweitet. Reich6 berichtet, dass diese Entwicklung nicht nur die Ansicht der deutschsprachigen Elternschaft widerspiegelt, sondern auch den Wunsch eines Großteils der zwei- und mehrsprachigen Migranteneltern.
    Die Evaluationsergebnisse der wenigen, bislang evaluierten Deutschförderprogramme stimmen allerdings nachdenklich, zeigen sie doch, dass die Teilnahme an einer Förderung keine positiven Auswirkungen auf den Sprachlernprozess im Deutschen nach sich zieht. Die Kluft zwischen Kindern, die eine spezielle Förderung erhielten und denen, die an solchen Angeboten nicht teilnahmen, blieb weiterhin bestehen. Hierfür werden viele mögliche Gründe genannt, die genauer überprüft werden müssen, z.B. zu große Lerngruppen und zu wenig effektive Lernzeit, zu kurze Förderdauer (häufig im letzten Kindergartenjahr) und Intensität, fehlende sprachpädagogische Professionalität des Personals. 7 Hinzu kommt, dass Förderung eher nach dem Gießkannenprinzip erfolgt und kaum auf die individuellen kindlichen Sprachlernbedürfnisse bezogen wird. Auch wird verstärkt mit verschulten Methoden gearbeitet und weniger das Spiel als zentrale kindliche Lernform für sprachbildende Zwecke genutzt. 8 Die Ergebnisse der Zweitspracherwerbsforschung lassen zudem die Schlussfolgerung zu, dass die Herstellung von Verbindungen zwischen den Sprachen wie es die Psychologin Gudula List fordert, also die Einbeziehung der kindlichen Mehrsprachigkeit, dem Sprachlernen zuträglich sein kann – eine Herangehensweise, die in den evaluierten Sprachförderprogrammen nicht verfolgt wurde. Die Ergebnisse der sprachpsychologischen Forschung weisen darauf hin, dass Kinder im Allgemeinen von der frühen Mehrsprachigkeit in vielen Sprachentwicklungsbereichen profitieren, da sie noch ganz auf ihre impliziten Erwerbsstrategien zurückgreifen können. 9 Der frühe Erwerb metasprachlicher Fähigkeiten wird zudem mit erklärt, dass mehrsprachige Kinder früh mit der Arbitrarität von Sprachzeichen umgehen müssen. Dies scheint ihnen früher als monolingualen Kindern zur Einsicht zu verhelfen, dass „die Passung von Form und Bedeutung bei Wörtern eine Sache der Vereinbarung ist“. 10 Trotz solcher Befunde bleiben gerade bei Migrantenkindern die Chancen ungenutzt, sie beim Aufbau ihres kognitiven Potentials zu unterstützen. 11
   
    Sprachliche Bildung in der frühen Kindheit
   
    Das Konzept der sprachlichen Bildung, das umfassender als das der Sprachförderung ist und bei dem weniger das noch Aufzuholende in der Sprachentwicklung, sondern das Kind und seine Sprache/n im Zentrum stehen, erscheint geeignet, um einen Perspektivwechsel in der pädagogischen Spracharbeit im Elementarbereich einzuleiten. Bildung in der frühen Kindheit kann als Selbsttätigkeit des Individuums verstanden werden. Im Mittelpunkt steht das selbstständige Handeln des Kindes bei seinen Lernprozessen sowie deren Integration in einen übergreifenden Zusammenhang, der durch die Auseinandersetzung mit kultureller und sozialer Wirklichkeit gewonnen wird. 12 Aus dieser Perspektive kann es nicht nur um eine (kompensatorische) Förderung des Deutschen gehen, sondern um die Anerkennung der Sprachen der Kinder als Grundvoraussetzung für ihren Bildungsprozess. Frühkindliche sprachliche Bildungsarbeit rückt Sprache als Werkzeug, die Selbsttätigkeit des Kindes, dessen Neugierde und Streben nach (sprachlicher) Handlungsfähigkeit zur Zielerreichung sowie die Gegebenheiten der jeweiligen soziokulturellen Lebenswelt in den Vordergrund. 13 Sprachliche Bildung ist nicht an eine bestimmte Sprache gebunden und beinhaltet, sofern es sich um ein Individuum handelt, dessen Selbsttätigkeit sich in mehreren Sprachen ausdrückt und dessen soziale Wirklichkeit von Sprachenvielfalt geprägt ist, immer auch die Mehrsprachigkeit.
    Ein praktischer Ansatz zur sprachlichen Bildung in mehrsprachigen Gruppen wurde von einer Forscherinnengruppe des Deutschen Jugendinstituts (DJI) im Rahmen des Projekts „Sprachliche Förderung in der Kita“ entwickelt. 14 Ausgehend von den Bildungsbereichen Musik, Bewegung, Naturwissenschaften und Medien wird die Spracharbeit als Querschnittsaufgabe von Kindertageseinrichtungen verstanden. Dabei geht es zum einen darum, die tieferen Zusammenhänge zwischen Sprache, Handlung und Denken zu entdecken und die Funktionen der Sprachen für das jeweilige Kind zu betrachten. Zum anderen wird an den Fähigkeiten und Interessen der Kinder angesetzt ausgehend vom ‚sprachlichen Potential‘, das in den unterschiedlichen Bildungsbereichen steckt. So ist z.B. im naturwissenschaftlichen Bereich die Möglichkeit gegeben, sinnliche Naturerfahrung in Sprache zu fassen und Hypothesen aufzustellen; im Bereich Musik sind neben Rhythmus und Klang besondere sprachliche Formen, Reime und Verse in unterschiedlichen Sprachen erlebbar.
    Auch im Modellprogramm „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund FÖRMIG“ 15 wurden in zehn beteiligten Bundesländern Konzepte sprachlicher Bildung im Elementarbereich erprobt. Im Vordergrund standen hier die Gestaltung des Übergangs vom Elementar- zum Primarbereich und die Kooperation mit Eltern. Umgesetzt wurden bspw. sogenannte „family literacy“-Konzepte aus dem angelsächsischen Raum, in denen die schriftkulturelle Bildung zwischen den Generationen in den mitgebrachten Sprachen mit der Sprachbildung im Elementar- und Grundschulbereich verbunden wird.16 Auch gab es vereinzelt Ansätze, in denen auf den Sprachen der Kinder aufgebaut wurde, z.B. in einer Kindertagesstätte in Duisburg, die überwiegend von Kindern mit einem türkischsprachigen Hintergrund besucht wurde. Die sprachliche Bildung fand in beiden Sprachen – Türkisch und Deutsch – mit zwei Erzieherinnen statt, die zwischen den Sprachen hin- und her wechselten und das jeweilige inhaltliche Thema (Obst, Post, Einkaufen auf dem Markt) in beiden Sprachen erarbeiteten, darum bemüht, Verbindungen zwischen den Sprachen herzustellen.
    Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Anstrengungen der letzten zehn Jahre eine Reduktion auf die deutsche Sprache nach sich gezogen haben. Es stellt sich, auch unter Rückgriff auf Ergebnisse der Zweitspracherwerbsforschung und der Sprachpsychologie, die Frage, ob diese Reduktion tatsächlich zu den von der Bildungspolitik gewünschten Ergebnissen führen kann. Die verfügbaren Evaluationen von Fördermaßnahmen zeigen keine (nachhaltigen) Effekte, so dass das bisherige Vorgehen kritisch hinterfragt werden muss. Frühkindliche Sprachförderung sollte aus pädagogischer Perspektive als Querschnittsaufgabe konzipiert werden, bei der auf die Selbsttätigkeit der Kinder bei ihren Lernprozessen rekurriert wird und die mehrsprachigen sozialen Wirklichkeiten aufgegriffen werden. Diese Form der sprachlichen Bildung im Kontext von Migration und Mehrsprachigkeit kann nicht in einem standardisierten Programm – einer „one-size-fits-all“ Lösung – durchgeführt werden. Es bedarf – neben kreativen Evaluationsdesgins zur Wirksamkeitsüberprüfung – Konzepte, die an den jeweiligen institutionellen, lokalen und regionalen Voraussetzungen ansetzen.



    Fussnoten:

    1vgl. Fthenakis 2003; Laewen 2006, S. 98ff.
    2vgl. Roth/Britz/Lengyel 2005
    3vgl. z.B. Ulich/Oberhuemer 2003
    4Zu neueren Entwicklungen, die die Mehrsprachigkeit und/oder den Erwerb des Deutschen als Zweitsprache als Ausgangspunkt nehmen, vgl. Reich/Roth 2007; Lengyel u.a. 2009.
    5vgl. Gogolin 1994
    6vgl. Reich 2008, S. 251
    7vgl. Hoffmann u.a. 2008
    8vgl. Lengyel 2009
    9vgl. List 2007
    10vgl. List 2007, S. 39
    11vgl. Gogolin 2008, S. 85
    12vgl. Schäfer 2005
    13vgl. Lengyel 2009
    14vgl. Jampert u.a. 2006; Jampert u.a. 2009
    15Programmträger: Institut für International und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft, Universität Hamburg, Sprecherin: Prof. Dr. Ingrid Gogolin. Informationen unter: http://www.blk-foermig.uni-hamburg.de/web/de/all/fkz/index.html
    16vgl. Elfert/Rabkin 2007


    Literatur::

    Elfert, Maren/Rabkin, Gabriele (Hrsg.) (2007): Gemeinsam in der Sprache baden: Family literacy. Internationale Konzepte zur familienorientierten Schriftsprachförderung. Stuttgart: Ernst Klett Sprachen.
    Fthenakis, Wassilios E. (2003): Zur Neukonzeptualisierung von Bildung in der frühen Kindheit. In: Fthenakis, Wassilios E. (Hrsg.): Elementarpädagogik nach PISA. Wie aus Kindertagesstätten Bildungseinrichtungen werden können. Freiburg: Herder, S. 18-37.
    Hoffmann, Nicole/Polotzek, Silvana/Roos, Jeanette/Schöler, Hermann (2008): Sprachförderung im Vorschulalter – Evaluation dreier Sprachförderkonzepte. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 3 (3), S. 291-300.
    Gogolin, Ingrid (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster: Waxmann.
    Gogolin, Ingrid (2008): Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund im Elementarbereich. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. 10. Jg., Sonderheft 11, S.79-90.
    Jampert, Karin/Leuckefeld, Kerstin/Zehnbauer, Anne/Best, Petra (2006): Sprachliche Förderung in der Kita. Wie viel Sprache steckt in Musik, Bewegung, Naturwissenschaften und Medien? Berlin: verlag das netz.
    Jampert, Karin/Best, Petra/Guadatiello, Angela/Holler, Doris/Zehnbauer, Anne (2007): Schlüsselkompetenz Sprache. Sprachliche Bildung und Förderung im Kindergarten. Konzepte, Projekte und Maßnahmen. 2. aktualisierte und überarbeitete Aufl. Berlin: verlag das netz.
    Jampert, Karin/Zehnbauer, Anne/Best, Petra/Sens, Andrea/Leuckefeld, Kerstin/Laier, Mechthild (Hrsg.) (2009): Kinder-Sprache stärken! Sprachliche Förderung in der Kita: das Praxismaterial. Berlin: verlag das netz.
    Laewen, Hans-Joachim (2006): Funktionen der institutionellen Früherziehung: Bildung, Erziehung, Betreuung, Prävention. In: Fried, Lilian/Roux, Susanne (Hrsg.): Pädagogik der frühen Kindheit. Weinheim: Beltz, S. 96-107.
    Lengyel, Drorit (2009): Zweitspracherwerb in der Kita. Eine integrative Sicht auf die sprachliche und kognitive Entwicklung mehrsprachiger Kinder. Münster: Waxmann.
    Lengyel, Drorit/Reich, Hans H./Roth, Hans-Joachim/Döll, Marion (Hrsg.) (2009): Von der Sprachdiagnose und Sprachförderung. FörMig Edition Band 5. Münster: Waxmann.
    List, Gudula (2007): Förderung von Mehrsprachigkeit in der Kita. Expertise im Auftrag des Deutschen Jugendinstituts. Url: www.dji.de/bibs/384_8288_Expertise_List_MSP.pdf. Zugriff am 28.2.2011.
    Reich, Hans H. (2008): Kindertageseinrichtungen als Institutionen sprachlicher Bildung. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 3 (3), S. 249-258.
    Reich, Hans H./Roth, Hans-Joachim (2007): HAVAS 5 – das Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstands bei Fünfjährigen. In: Reich, Hans H./Roth, Hans-Joachim/Neumann, Ursula (Hrsg.): Sprachdiagnostik im Lernprozess. Verfahren zur Analyse von Sprachständen im Kontext von Zweisprachigkeit. FörMig Edition Band 3. Münster: Waxmann, S.71-94.
    Roth, Hans-Joachim/Britz, Lisa/Lengyel, Drorit (2005): Bericht zur Evaluation der Kindertageseinrichtungen des Caritas-Verbandes Köln. Köln: Forschungsstelle für interkulturelle Studien: Mimeo.
    Schäfer, Gerd E. (2005): Bildung beginnt mit der Geburt. 2. veränd. Aufl. Weinheim: Beltz.
    Ulich, Michaela/Oberhuemer, Pamela (2003): Interkulturelle Kompetenz und mehrsprachige Bildung. In: Fthenakis, Wassilios E. (Hrsg.): Elementarpädagogik nach PISA. Wie aus Kindertagesstätten Bildungseinrichtungen werden können. Freiburg: Herder, S. 152-168.