Interkultur statt Integration!
Überlegungen zu längst überfälligen Reformen im Kunstbetrieb
[Entegrasyon Yerine Kültürlerarasýlýk!
Sanat Alanýndaki Gecikmiþ ve Gerekli Reformlara Ýliþkin Düþünceler]
Prof. Dr. Wolfgang SCHNEIDER
(Direktor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim)
Kulturpolitik sei in erster Linie Kommunalpolitik, so postuliert es immer wieder einmal der Deutsche Städtetag. Aber was heißt das? Die Ermöglichung der Kunst ist eher eine freiwillige Aufgabe und in Zeiten klammer Kassen kürzen Kommunen ihre Kulturförderung. Dabei sind die Stadträte doch nah dran, sie müssten wissen, was kulturelle Identität in einer globalisierten Welt bedeutet, sie müssten wissen, welches Potential durch kulturelle Bildung für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft zu generieren wäre, sie müssten wissen, dass Demokratie nur dann funktioniert, wenn auch Kultur für alle und Kultur von allen verwirklicht wird – und dass heißt in zunehmenden Maße: Wir brauchen eine interkulturelle Politik!
„Wenn das Motiv, das Leben zu gestalten, unter anderem von der Kürze des Lebens herrührt, dann kommt der Anstoß dazu, es schön und gut zu gestalten, von der Sehnsucht nach der Möglichkeit, es voll bejahen zu können“, schreibt die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages.
Die Künste erweisen sich als eben jene Ausdrucksformen, in denen menschliche Empfindungen zur Sprache gebracht werden. Vor diesem Hintergrund ist es deshalb wichtig, den Menschen Gelegenheit zu geben, ihren eigenen kulturellen Interessen zu folgen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und am kulturellen Leben teilzunehmen. Die Legitimation öffentlicher Kulturförderung ist also nicht die Wirtschaftskraft, der Tourismusfaktor oder gar die Umwegrentabilität.
Interkultur, eine Marginalie
Das wäre der Überbau. Und wie steht es um die Niederungen der Kulturlandschaft? Migration findet im deutschen Theater nur als Marginalie statt. Den Stadttheatern fehlt das Personal, die Ausbildungsstätten haben bei weiten nicht den repräsentativen Anteil an migrantischen Nachwuchs und das Publikum wird zwar weniger und älter, aber ganz und gar nicht bunter. Jüngste Debatten des Deutschen Bühnenvereins kommen Jahrzehnte zu spät, erste strukturelle Maßnahmen in der Theaterpraxis sind längst überfällig, einige Veranstaltungen und Veröffentlichungen zum Thema sind hilfreich für den Diskurs, Konsequenzen für die Kulturpolitik wären aber noch zu formulieren. Mit rund 25 % der öffentlichen Budgets per anno – mehr als zwei Milliarden Euro -, sollten die Darstellenden Künste verpflichten, Vorbild zu sein.
Ein Symposium des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim hatte sich im Sommer 2010 zum Ziel gesetzt, diesem Desiderat zu begegnen. Es galt Fragen über die gesellschaftliche Selbstverständigung in den dramatischen Künsten in Sachen Migration zu stellen, es galt theaterpolitische Konzepte zur Initiierung des Austauschs der Kulturen zu untersuchen. Welche künstlerischen Programme verhandeln den kulturellen Wandel, welche kulturvermittelnden Angebote brauchen die Bühnen und wie verändert eine solche Reform möglicherweise auch das gesamte System Theater?
Integration ist in Zeiten von Globalisierungsprozessen eine der großen Herausforderungen gesellschaftlichen und politischen Handelns. Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, religiöser Orientierung und kultureller Tradition soll eine gleichberechtigte Teilhabe am alltäglichen Leben gewährt werden. Ziel von Integration ist auch die Respektierung kultureller Vielfalt in einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft. Kulturpolitik kann im Intergrationsbemühen eine zentrale Rolle spielen, in dem sie zum Verständnis sowie zur Anerkennung kultureller Differenzen beiträgt. Interkultur wird in diesem Zusammenhang als Schlüsselbegriff benutzt um den Anspruch von Kulturpolitik zu definieren und Integration mittels kultureller Praxis zu ermöglichen.
Interkultur, eine Kunst
Migration ist ein Faktum. Jedes dritte Kind in Deutschland kommt derzeit aus einer migrantischen Familie, in einigen Städten haben zum Teil weit mehr als die Hälfte der Schüler einen Migrationshintergrund. Millionen von Menschen in unserem Lande sind türkischer oder osteuropäischer oder afrikanischer Abstammung. Die Migranten-Milieus unterscheiden sich allerdings weniger nach ethnischer Herkunft als nach ihren Wertvorstellungen, Lebensstilen und ästhetischen Vorlieben. Die meisten Migranten verstehen sich als Angehörige der multiethnischen deutschen Gesellschaft, wie die Studie zur Lebenswelten und Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland und Nordrhein-Westfalen 2010 ermittelte. (www.interkulturpro.de) Wichtigste Erkenntnis ist aber, dass Einwanderer sich in Kunst und Kultur stärker repräsentiert sehen möchten. Denn nur gerade mal ein Prozent der Bildungsveranstaltungen aller Kultureinrichtungen richten sich an migrantische Zielgruppen, nur 9 Prozent kooperieren mit Migrantenkulturvereinen, aber die meisten sehen Kunst und Kultur in diesem Zusammenhang als Brückenfunktion, wie das Zentrum für Kulturforschung ebenfalls 2010 in einer Untersuchung für das Bundesbildungsministerium herausfand. (www.kulturforschung.de)
Kunst und Kultur sind aber für einen gelingenden interkulturellen Dialog unverzichtbar. Die den Künsten innewohnende Dynamik, ihr Experimentier- und Innovationscharakter, ihr emotionales Potential und nicht zuletzt auch die Möglichkeit der nonverbalen Kommunikation erleichtern und befördern die Begegnung mit anderen Kulturen und Traditionen und können die wechselseitige Akzeptanz verstärken. Besonders kulturelle Bildungsprozesse vermögen es, unterschiedliche Wertvorstellungen und Lebensformen zu vermitteln. Kenntnis und Verständnis füreinander sind wesentliche Voraussetzungen für ein gewaltfreies Zusammenleben in der Gesellschaft. Der Weg ist damit vorgeschrieben: Von der interkulturellen Herausforderung zur Interkulturalität. Ganz im Sinne des Europäischen Jahres des interkulturellen Dialogs, in dem sich 2008 vor allen die zivilgesellschaftlichen Akteure in besonderer Weise hervorgetan haben. Es gelte die Sicht auf das zu lenken, was wir gemeinsam werden könnten: „Wir wollen interkulturelle Innovation herbeiführen und interkulturelle Maßnahmen der öffentlichen Entscheidungsträger fördern. Wir müssen die Interkulturalität, d.h. das Prinzip, Kulturen durch interkulturelles Engagement zu entwickeln, zu unserer neuen menschlichen Norm erheben“, heißt es im sogenannten Rainbow Paper. (www.intercultural-europe.org)
Interkultur, ein Modell
Es sei höchste Zeit, über die Gestaltung der Zukunft zu sprechen, schreibt Mark Terkessidis. Der Publizist, früher in Köln, jetzt in Berlin lebend, hat hierzu ein Konzept entwickelt: Das Programm Interkultur. In einem Band der Edition Suhrkamp kann man seit 2010 nachlesen, was in der Migrationsgesellschaft Deutschland so alles schief läuft, wo sich auf der Makroebene seit Jahrzehnten kaum etwas bewegt und wo sich gleichzeitig im Mikrokosmos kommunaler Orte neue Potentiale offenbaren. Interkultur wird als Verfahrensweise beschreiben, will aber keineswegs ein utopischer Entwurf sein, sondern eher als Handlungsregel verstanden werden. Es geht um die „Kultur-im-Zwischen“, um das „Prinzip“ Interkultur, das für die mannigfaltigen Produktionen der Vielheit sensibilisieren soll. Ausgangspunkt der Überlegungen ist in der Tat eine neue Weltsicht, die Terkessidis mit den Begriffen der Parapolis und der Heterotopien charakterisiert. Angesichts der Mobilitäten in der Bevölkerung erscheine die normative Bindung an Vorstellungen von einem „Wir“ wenig zukunftsweisend. Die Polis sei auseinandergefallen, die Parapolis konstituiere die neuen Zusammenhänge. Es gelte mit dem „Modell“ Interkultur die Norm zu hinterfragen, die Herstellung eines Rahmens zu schaffen, der den Individuen ihre Entfaltung ermöglicht und die Nachbarschaft der fremden Orte entdecken hilft. Diese Heterotopien seien es, die eine interkulturelle Stadt prägen, nicht die Erhaltung des Bestehenden sei ihr Ziel, sondern die „Aktivierung und Neukomposition von Differenzen“. Viel fruchtbarer sei es, die Vielheit auf der Straße zum Ausgangspunkt zu nehmen für eine andere Idee der Bevölkerung. Dazu bedarf es vor allem eines Umbaus der Institutionen. „Staatliche oder durch staatliche Gelder finanzierte Institutionen – damit sind Ämter ebenso gemeint wie kommunale Unternehmen, Museen, Bibliotheken und Erziehungseinrichtungen – werden sich verändern müssen, um der zunehmenden Vielfalt gerecht zu werden.“ Diese These hat auch ein Programm zur Folge, das in vier Schritten die „Herstellung von Barrierefreiheit“ anstrebt: Die Kultur der Institutionen bedürfe der Neujustierung in ihren Verfassungen, Regeln und Normen, der Personalbestand harre der Überprüfung von Schieflagen und ihrer Veränderung, die materiellen Grundlagen seien Voraussetzung für erweiterte Angebote, Gestaltung der Räume – im weitesten Sinne – sowie die Universalisierung der Umwelt und die Ausrichtung der Strategien wäre auf ein Diversity Mainstreaming zu konzentrieren.
Was heißt das für die Theaterstätten und Theatergruppen in Deutschland? Was tut sich, was gibt es an Konzepten? Welche multiethnischen Angebote, welche interkulturelle Kunstvermittlung prägen die Modelle? In Köln wurde diskutiert, die Diskurse sind in dem Buch „Theater und Migration. Herausforderungen an Theaterpraxis und Kulturpolitik“ (Transkript Verlag, Bielefeld 2011) dokumentiert. Kulturwissenschaftler und Theaterkünstler haben das Wort, Kulturpolitik und Theaterpraxis stehen auf dem Prüfstand. Es gibt unterschiedliche Positionen über das Theater als Bühne kultureller Identitäten, über das Theater als Auseinandersetzung mit dem Fremden, über das Theater als Ort gesellschaftlicher Partizipation, über das Theater als Angebot interkultureller Dialoge.
Interkultur, eine Brückenfunktion
„Im Zeitalter der Globalisierung und Internationalisierung bedarf es der identitätsstiftenden Wirkung von Kunst und Kultur“, heißt es im Abschlussbericht der Kultur-Enquête des Bundestags. Das Potenzial der Kunst wird als mögliche Brückenfunktion bei interkulturellen Prozessen hervorgehoben. Unterstützung findet diese Annahme durch Beobachtungen in Umfragen, wo deutlich wird, dass das „Fremde“ in der Kunst eine Anziehungskraft ausübt, wie dies exemplarisch in den Ausstellungsinteressen von jung und alt deutlich wird, wo völkerkundlichen Ausstellungsthemen ein großes Interesse entgegengebracht wird. Es gibt also durchaus ein Interesse in der Bevölkerung, sich mit Künsten und Kulturen anderer Länder auseinanderzusetzen.
Susanne Keuchel vom Zentrum für Kulturforschung dokumentiert in ihrer Pilotstudie mögliche existierende Brückenfunktionen von Kunst und Kultur. „In ihren Antworten bejahten die Interviewpartner mehrheitlich die Chance des Brückenbaus mit Kunst. Dabei waren es vor allem nonverbale Künste, wie Musik oder auch Kunstausstellungen, denen eine Vermittlerfunktion zugesprochen wurde. Eine iranische Sängerin meinte dazu: „Kunst kann auf jeden Fall eine Brücke sein. Ich muss mit anderen Musikern nicht sprechen, es reicht, wenn wir alle musizieren. Das ist dann die Sprache.“ (Iranische Sängerin)
Formen, wie Kunst eine Brückenfunktion einnehmen kann, wurden von den befragten Künstlern unterschiedlich definiert. So wurden einerseits Situationen genannt, in denen sich Rezipienten aus einem Kulturkreis mit Kunst aus einem anderen Kulturkreis auseinandersetzten. Ein türkischer Maler berichtete, dass solche Aktionen wie die Ausstellung Berlin-Istanbul dazu beitragen könnten, die Kenntnisse der Menschen über andere Länder zu erweitern und so falsche Vorstellungen zu korrigieren. Auch sprach der Befragte von Begegnungen im Rahmen seiner eigenen Ausstellungen. Über Kunst könne man „ins Gespräch kommen, um die falschen Bilder im Kopf abzutragen.“ Ein anderes Beispiel für solche Arten des kulturellen Brückenbaus sind Konzerte, bei denen die Musik anderer Kulturen aufgeführt wird. So sagte ein Musiker: „Die Aufführung von Musik anderer Kulturen erhöht die Verständigung zwischen den Völkern und das Verständnis für andere kulturelle Facetten.“ (Russischer Musiker)
Interkultur, ein Auftrag
Andererseits wurden als Beispiele kulturellen Brückenbaus Kunstprojekte genannt, bei denen Künstler mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund gemeinsam kreativ tätig werden. So meinte ein Schauspieler, dass internationale Produktionen immer zu mehr Offenheit und Verständnis führten, und ein Kalligraf berichtete von einem Projekt, bei welchem Schriftkünstler aus verschiedenen Regionen der Welt im Rahmen eines interkulturellen Festes gemeinsam ein Buch gestalteten. Ein Befragter hob als Form des kulturellen Brückenbaus Crossover-Musik hervor, die verschiedene Stile miteinander verschmilzt und etwas Neues entstehen lässt. Letztgenannte Beispiele ermöglichen nicht nur im Sinne eines Brückenbaus eine bessere Verständigung durch Kunst für die Kultur des „Anderen“, sondern dienen als Katalysator für das Entstehen neuer, „hybrider“ Kunstformen.
Neben solchen positiven Rückmeldungen gibt es punktuell auch skeptische Stimmen, was die Chancen eines kulturellen Brückenbaus durch Kunst angeht. Der Kunstbetrieb ist oft so elitär, dass er keine breiten Bevölkerungsteile erreiche, sondern höchstens „Reiche mit Reichen“ verbindet. Eine wahre Brücke muss aber den Bereich der „Lebenskultur“ einschließen, damit auch „der normale Mensch Zugang“ hat.
Aus all den Überlegungen, aus all den theoretischen Diskursen, aus all den Analysen der Praxis lassen sich Erkenntnisse erzielen, die Eingang in einen Auftrag an Kultur- und Bildungspolitik finden sollten. Die Entwicklung der Kulturlandschaften darf nicht mehr dem Zufall überlassen bleiben, sondern muss aus Verantwortung, öffentliche Mittel nicht nur den klassischen Kulturnutzern zu Gute kommen zu lassen, der gesamten Gesellschaft eine Kultur für alle ermöglichen. Wir brauchen kein Migranten-Stadl, wir brauchen eine umfassende Reform der Kunstbetriebe!
Professor Dr. Wolfgang Schneider ist Direktor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, er war Sachverständiger der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages, ist Mitglied der Deutschen UNESCO-Kommission, Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen, zum Beispiel von „Kulturelle Bildung braucht Kulturpolitik“ (Hildesheim 2010), „Theater und Migration“ (Bielefeld 2011) und der Schriftenreihe „Studien zur Kulturpolitik“ (Frankfurt am Main).
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