Mit dem Ausdruck „Paternalismus“ wird auf eine gesellschaftliche Figuration aufmerksam gemacht, die auch das Sprechen und Handeln in der Migrationsgesellschaft prägt. Dieser Figuration kommt im Kontext migrationsgesellschaftlicher Verhältnisse eine besondere Bedeutung zu, da sie einen Mechanismus darstellt, der (verknüpft etwa mit dem dominierenden Integrationsverständnis und dieses hervorbringend) einen zentralen Beitrag zur Herstellung der sozial wirksamen Differenzierung zwischen „mit“ und „ohne Migrationshintergrund“ leistet. Im Januar 2012 wurde das Phänomen des Paternalismus im Rahmen einer Tagung in Wien auf die (sprachliche) Erwachsenenbildung bezogen thematisiert (http://daf.univie.ac.at/tagungen/). Im Folgenden erläutern wir einige im Rahmen der Tagung diskutierte Überlegungen zur paternalistischen bzw. pseudo-paternalistischen Herstellung migrationsgesellschaftlicher Unterscheidungen.
(1.) Paternalismus
Kennzeichnend für die paternalistische Figuration ist eine spezifische Unterscheidung. Im Paternalismus wird zwischen jenen, denen eine bestimmte Form von Unterstützung (Hilfe, Zuwendung, Unterricht,...) zukommen soll (den „Behandelten“) und denen, die solche Unterstützung zu geben in der Lage sind („die Behandelnden“) unterschieden. Paternalistische Praxen konstituieren diesen Unterschied.
Folgen wir der üblichen Verwendung des Begriffs Paternalismus, so ist das Verhältnis zwischen Beiden wiederum bestimmt durch das Ziel, das „Wohl“ der Behandelten zu erhöhen, wofür jedoch zugleich Einschränkungen – etwa ihrer Selbstbestimmung - durch die Behandelnden in Kauf genommen werden: Als paternalistisch werden solche Handlungen bezeichnet, die die Freiheit (oder äußere Autonomie) der Behandelten beschränken um deren Wohlergehen zu schützen.
Als Paternalismus bezeichnet das Cambridge Dictionary of Philosophie, 2009: interference with the liberty or autonomy of another person, with justifications referring to the promotion of the persons good or the prevention of harm from the person.
Paternalistische Konstellationen finden sich daher „klassischerweise“ zwischen Kindern und Erwachsenen oder gegenüber Personen, deren Autonomie partiell eingeschränkt ist, mit dem Ziel, Autonomie dann über paternalistisches Handeln (wieder) herzustellen, wenn diese Autonomie lediglich temporär und nicht grundsätzlich eingeschränkt ist.
(2.) Paternalismus und/als migrationsgesellschaftliche Unterscheidungen
Im Kontext migrationsgesellschaftlicher Verhältnisse finden wir, so scheint es zumindest zunächst auf den ersten Blick, eine Häufung paternalistischer Argumentationsfiguren, Strukturen und (Be-)Handlungsweisen. Prominenter Weise wird dabei ein Mangel konstatiert, der das „Wohl“ bestimmter Personen einschränkt; nämlich ein Mangel an Einbezug, an Unterstützung oder eben (so der zentrale Begriff des dominanten Diskurses) an „Integration“. Die zumeist mit einem mechanischen (Be-)Handlungsverständnis verknüpfte und die bestehende Ordnung unhinterfragt zum Maßstab nehmende Leitfrage lautet dann: „Was muss getan werden, um MigrantInnen besser zu integrieren, einzubeziehen, etc.“.
Paternalistische Argumentationen und Praxen können hierbei auf drei migrationsgesellschaftliche Ebenen bezogen sein:
a) Staat gegenüber Individuum
b) PädagogIn gegenüber Erwachsener/m
c) `Mehrheit´ gegenüber `Minderheit´
Auf allen drei Ebenen finden sich Konstellationen, in denen Vorgaben oder Forderungen, die die Autonomie des und der Behandelten einschränken, mit ihrem oder seinem Wohl begründet und legitimiert werden. Dabei werden nicht nur spezifische Eingriffe gegenüber `MigrantInnen´ über solche paternalistische Argumentationsfiguren legitimiert; mitunter wird das Verhältnis zwischen `MigranInnen´ und `Nicht-MigrantInnen´ über diese Figur als (hegemoniales) Verhältnis von „(Be-)Handelnden“ und „Behandelten“ erst hergestellt.
Nun stellt sich jedoch die Frage, unter welchen Bedingungen paternalistische Eingriffe in die lebensweltliche Autonomie der Behandelten zulässig sind und wann nicht?
(3.) Paternalismus oder Pseudopaternalismus?!
Das Thema „Sprache“ kann im migrationsgesellschaftlichen Kontexten als ein - wenn nicht das - zentrale(s) Feld beschrieben werden, in welchem paternalistische, auf „Integration“ rekurrierende Argumentationen vorherrschen. Im Rahmen der Kampagne „Raus mit der Sprache – rein ins Leben“ (http://www.deutschlandstiftung.net/) bringen, so die Selbstdarstellung auf der Homepage, „Botschafterinnen und Botschafter [allesamt bekannte Personen des öffentlich-medialen Lebens „mit Migrationshintergrund“] ihre Persönlichkeit zum Ausdruck und transportieren mit der herausgestreckten Zunge in den Farben Schwarz, Rot und Gold die klare Botschaft: `Die Beherrschung der deutschen Sprache ist der Schlüssel für eine erfolgreiche Integration´“ (http://www.deutschlandstiftung.net/).
Staatsministerin und Integrationsbeauftragte Maria Böhmer kommentiert die Kampagne wie folgt:
„Die Kampagne macht deutlich: Wer kein Deutsch kann, ist nur Zaungast in unserem Land. Deshalb appelliere ich an die Migranten, Deutsch zu lernen! Erst mit guten Deutschkenntnissen lassen sich alle Chancen ergreifen, die unser Land bietet. Die Beherrschung der deutschen Sprache ist die Voraussetzung für gute Bildung, eine fundierte Ausbildung und einen festen Arbeitsplatz. Und damit für eine erfolgreiche Zukunft. Wer gut Deutsch spricht, kann sich zudem in unserer Gesellschaft einbringen und mitwirken. […] Die Botschaft lautet: Mit guten Deutschkenntnissen kannst auch Du den Aufstieg in unserem Land schaffen!“
Was passiert hier? Wie ist diese Ansprache von Migranten und Migrantinnen durch die Staatsministerin für Migration zu bewerten? „Wer kein Deutsch kann, ist nur Zaungast in unserem Land.“ Ist diese Feststellung mit zunächst implizitem, sodann explizitem paternalistischem Aufforderungscharakter, pädagogisch, kulturell und politisch zulässig?
Zulässigkeit können solche paternalistischen Praxen beanspruchen, wenn sie tatsächlich das Wohl, die Handlungsfähigkeit oder die Autonomie des Gegenübers im Blick haben und die paternalistische Handlung einen Bestandteil der (Wieder-)Herstellung des Wohls, der Handlungsfähigkeit oder der Autonomie des behandelten Gegenübers darstellt.
Unzulässig sind jene paternalistischen Interventionen, die zwar Wohl, Handlungsfähigkeit oder Autonomie des oder der Behandelten primär im Blick haben, aber auf der Grundlage irrtümlicher Annahmen (Annahmen etwa über den Grad der Autonomieeinschränkung des oder der Behandelten oder über die Wirksamkeit der zum Einsatz kommenden Mittel) misslingen.
Von zulässigem und unzulässigem Paternalismus sind jedoch jene Formen von Interventionen in die Freiheit des Gegenübers zu unterscheiden, die nur Vorderhand und rhetorisch auf Wohl, Handlungsfähigkeit oder Autonomie des Gegenübers zielen, faktisch aber anderes im Blick haben. Diese Praxen fassen wir im Begriff Pseudo-Paternalismus.
Wenn politisch etwa nicht primär das Wohl des Behandelten, sondern letztlich die Balance oder die imaginäre Einheit gesellschaftlicher Wirklichkeit im Vordergrund steht, dann haben wir es bei Rhetoriken, die vorgeben, es ging um das Wohl der Behandelten, mit einem unernsten, einem Pseudo-Paternalismus zu tun. Die in vertraulich infantilisierendem Ton gehaltene Botschaft: „Mit guten Deutschkenntnissen kannst auch Du den Aufstieg in unserem Land schaffen!“ darf als pseudo-paternalistisch verstanden werden, weil wir zum jetztigen Zeitpunkt nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob Deutschkenntnisse in jedem Fall sozialen Aufstieg in Deutschland garantieren. “Für die Erklärung der schulischen Nachteile von Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien durch mangelnde Deutschkenntnisse“, schreibt Diefenbach im Zuge der Zusammenschau unterschiedlicher Befunde und Erklärungsansätze, „spricht […] derzeit wenig mehr als die hohe Plausibilität des Zusammenhangs zwischen Sprachkenntnissen und Schulerfolg“ (2010, S. 148: Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien im deutschen Bildungssystem). Vor diesem Hintergrund kann die diskursive Engführung von Migration als Integration auch so gelesen werden, dass es gar hier letztlich gar nicht so sehr um das Wohl und damit um die Freiheit der Migranten und Migrantinnen geht, sondern um die (Wieder)Herstellung einer imaginären gesellschaftlichen Einheit. Deutschkenntnisse werden als Schlüssel zu Partizipation, Bildung und Wohlstand dargestellt, Forderungen an MigrantInnen werden formuliert und diese als Mittel zur Erreichung ihres Wohls deklariert. Die Normativität dieses Diskurses wird hierbei aber kaum zum Thema. Die Kampagne „Raus …“ kann damit als Beitrag zur Bewahrung oder Wiederherstellung einer imaginären nationalen Ordnung – hier der Einsprachigkeit im Deutschen als einzige nationale Sprache – gelesen werden.
Pseudo-Paternalismus stellt eine Maßnahme der Disziplinierung mit dem Ziel der Herstellung oder Legitimation von Dominanzverhältnissen dar. Pseudo-Paternalismus gibt vor, die Handlungsfähigkeit und das Wohl des und der Einzelnen im Blick zu haben: Damit legitimiert er Handlungen, Gesetze und Interventionen, die die Frage des Willens des und der Einzelnen paternalistisch gering schätzen. Pseudo-Paternalismus ist in pädagogischen Kontexten ebenso wenig zulässig wie auf (mehrheits)gesellschaftlicher Ebene. Auf der Ebene pädagogischen Handelns wäre hierbei zu hinterfragen, inwiefern die Sicherung der Handlungsfähigkeit der (mehrheitsangehörigen) PädagogInnen und die Konservierung bildungsinstitutioneller Routinen eigentliche Ziele pseudo-paternalistisch begründeter Praxen darstellen. Die Rede vom Wohl der MigrantInnen wird benutzt, um disziplinierende Interventionen zu legitimieren, z.B. wenn mit Ausweisung oder Geldstrafe gedroht wird, sollten nach dem Besuch eines „Integrationskurses“ nicht die erwarteten Deutschkenntnisse präsentiert werden können.
Pseudopaternalistische Interventionen sind nicht zu legitimieren. Dies sollte der Pädagogik klar sein, zumindest jener, die es erstens ernst meint mit ihrer Verantwortung davor, Grenzen der Selbstbestimmung des Gegenübers zu achten und zweitens Grenzüberschreitungen klar begründen, erläutern zu können und darin zu verantworten.
(4.) Legitimation und Kritik des Paternalismus
Über die Kritik am Pseudo-Paternalismus werden die Bedingungen klarer, unter denen ein „echter“ Paternalismus legitim ist. Unter welchen Umständen also sind paternalistische Interventionen zulässig? Folgende Punkte mögen dazu beitragen, Antworten auf diese Fragen insofern einzugrenzen; sie zeigen, wann Paternalismus nicht zulässig sein kann:
• wenn die Freiheit der und des Einzelnen gegen ihren oder seinen Willen eingeschränkt wird
• wenn die Bezugnahme der Behandelnden nicht strikt autonomieorientiert ist
• wenn das, was das Gegenüber will oder wollen könnte, nicht ausreichend in Erfahrung gebracht wurde
• wenn die Zumutung größer als erforderlich ist (wie etwa in Assimilationsanforderungen)
• wenn das Recht darauf, Fehler zu machen (J.S. Mill) und damit eigenständiges Lernen verhindert wird
• wenn man nicht mit Gewissheit sagen kann, dass das, was vorgeschrieben wird (z.B. „Sprich Deutsch“), auch zu jenem Ergebnis führt, das versprochen wurde (z.B. Teilhabe, Zugehörigkeit, Anerkennung)
Kritik an Handlungen, die die Freiheit, die Autonomie, den Willen des/der Einzelnen einschränken, um deren Wohl zu befördern, muss also jeweils zweifach formuliert werden. Erstens ist zu fragen, ob es sich um Paternalismus oder einen Pseudo-Paternalismus handelt, also eine Behandlung, die vorgibt, die Autonomie des Gegenübers einzuschränken („Sprich Deutsch“), weil dies dem Wohle des Gegenübers diene, obwohl sich dies tatsächlich nicht mit Gewissheit gesagt werden kann. Der politische und pädagogische Pseudo-Paternalismus ist immer zurückzuweisen. Wenn es sich um einen echten Paternalismus handelt, stellt sich zweitens die Frage, ob der Paternalismus zulässig ist. Die Kritik am Paternalismus ist demnach immer eine doppelte Kritik.
Es ist eine tägliche Herausforderung, Erwachsenenbildung ohne Pseudo-Paternalismus oder unzulässigen Paternalismus zu gestalten. Der Begriff des Paternalismus stellt eine Analyseperspektive dar, mit der das eigene pädagogische Handeln reflektiert werden kann. Erwachsenenbildung als Raum, in dem jederzeit ein „Nein“ der pädagogischen Gegenüber möglich ist, wäre eine wirksame Konzeption, um unzulässige pädagogische Macht zu verhindern, um Dominanzverhältnisse zu schwächen, die die Beschränkung des Willens und der Freiheit des und der Einzelnen unter der Vorgabe, dies diene dem Wohl der Anderen, zu legitimieren suchen.
Diefenbach, Heike (2010): Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien im deutschen Bildungssystem. (Habilitationsschrift, 3. Auflage.) Erklärungen und empirische Befunde. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Fussnoten:
1
Mitglieder der internationalen AG:
Susanne Arens (Universität Oldenburg),
Ýnci Dirim (Universität Wien),
Marion Döll (Universität Wien),
Magdalena Knappik (Universität Wien),
Paul Mecheril (Universität Oldenburg)
Claus Melter (Hochschule Esslingen),
Elisabeth Romaner (Universität Innsbruck),
Birgit Springits (Universität Wien),
Nadja Thoma (Universität Wien),
Oscar Thomas-Olalde (Universität Innsbruck).
2 Pressemitteilung zur Kampagne „Raus mit der Sprache, rein ins Leben“, 390/2010 vom 20.10.2010. http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Pressemitteilungen/ BPA/2010/10/2010-10-20-ib-kampagne-raus-mit-der-sprache.html, aufgerufen am 14.02.2012.
|