Demografie-Diskurse sind fast immer auch durch direkte oder indirekte Auseinandersetzungen über soziale Ungleichheit gekennzeichnet. Umso mehr sich Einkommens-Ungleichheiten, soziale Spaltungsprozesse und Armutskarrieren in den letzten Jahren ausweiteten und (fehlendes) Geld tatsächlich existenzielle Bedeutung annahm, desto häufiger betonten Regierungsstellen, aber auch einige Wissenschaftler und Medien, dass traditionelle Verteilungsfragen unwichtiger würden zugunsten von demografischen Problemen und Generationengerechtigkeit. Immer häufiger wird behauptet, dass die alte soziale Frage längst überwunden und durch neue demografie und generationenpolitische Konfliktlinien ersetzt worden sei. In öffentlichen Diskussionen zur Reform der Alterssicherung, aber auch hinsichtlich wachsender Staatsverschuldung sowie der Entwicklung von Sozialbeiträgen und Steuerabgaben wird die Frage gestellt, ob man nicht stärker zwischen Alt und Jung umverteilen müsse, um einen drohenden „Krieg der Generationen“ zu verhindern. Demografischer Wandel und „Generationengerechtigkeit“ sind die gegenwärtig mit am meisten bemühten sozialpolitischen Schlagwörter und Legitimationsbegriffe in der Bundesrepublik.
Im folgenden wird untersucht was geschieht, wenn soziale Fragen und Probleme in demografische und generationenspezifische Konfliktlinien umgedeutet werden. Denn mit der Demografie und dem demografischen Wandel lässt sich scheinbar jegliche politische Maßnahme im Laufe des letzten Jahrzehnts legitimieren. Mal wird das Aussterben der Deutschen als Bedrohung an die Wand gemalt, mal werden Immigrant(inn)en als Bedrohung angesehen, mal als nützliche Lösung für die Probleme der Alterssicherung. Zuwandernde und ihre Kinder nehmen in diesen Debatten häufig nur instrumentalisierten Objekt-Charakter an. Ein Kosten-Nutzen-Denken hat sich durchgesetzt, welches den Wert eines (einwandernden) Menschen einzig und allein an seiner Verwertbarkeit misst. Deshalb sind sowohl die einwanderungsfeindlichen als auch viele einwanderungsfreundliche Argumentationen zu problematisieren.
Die Instrumentalisierung junger Menschen im politischen Diskurs lässt sich anhand der Mitteilung der EU-Kommission zu einer „EU-Strategie für die Jugend – Investitionen und Empowerment“ (2009) verdeutlichen. Dort wird festgestellt, dass „angesichts der derzeitigen Wirtschaftskrise (…) das junge Humankapital gehegt und gepflegt werden“ müsse. Junge Menschen stellten eine „Ressource für die Gesellschaft (dar), die genutzt werden kann, um übergeordnete gesellschaftliche Ziele zu erreichen.“ Junge Menschen werden somit zu einer Sache herabgewürdigt („Humankapital“), deren instrumentelle Ausnutzung im Vordergrund steht. Daher wird offenbar, worauf die Kritik an einer „neoliberalen Hegemonie in der EU“ zielt: Eine völlige Marktorientierung, die den Wert von Menschen nur an ihrer instrumentellen Vernutzbarkeit misst.
Auch das Reden über Arme (Kinder und Familien) macht einen Teil der gesellschaftspolitischen Demografisierungs-Problematik aus. Dies gilt vor allem dann, wenn die Betrachtung von (Kinder-)Armut durch vielfache Formen der Ignoranz und Schicksalsgläubigkeit gekennzeichnet ist. Am bedenklichsten haben sich jedoch diejenigen Diskurse entwickelt, in denen Kinder und Familien mit den Etiketten „selbst schuld“ und „asozial“ bedacht werden und statt der Bekämpfung von Armut die Bekämpfung der Armen im Vordergrund steht. Das geschieht, wenn das ehemalige Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank und ehemalige Berliner SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin und der Berlin-Neuköllner SPD-Bürgermeister Heinz Buschkowsky verbal auf die „asoziale“ Unterschicht der „Säufer“ und „Kopftuchmädchen“-Produzenten eindreschen.
Thilo Sarrazin (SPD), meint: „Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate.“ Er hält die Einwanderung aus der Türkei für eine Form der Eroberung. Zudem ist für ihn Integration „eine Leistung dessen, der sich integriert. Jemanden, der nichts tut, muss ich auch nicht anerkennen. Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. Das gilt für 70 Prozent der türkischen und 90 Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin.“ (Lettre International Nr. 86/2009)). Inzwischen hat Sarrazin selbst zugegeben, dass er diese Zahlen schlicht frei erfunden hat. Er nennt dies stolz „geschöpfte Zahlen“ und macht einmal mehr deutlich, auf welchem wissenschaftlichen Niveau seine Thesen basieren (vgl. Naika Foroutan u.a.: Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand, 2010: 5)
Bei einer Veranstaltung der Arbeitskreise „Schule-Wirtschaft“ der Unternehmerverbände Südhessen in Darmstadt nutzte der damalige Bundesbank-Vorstand einen Vortrag zum Thema „Bildung, Demografie, gesellschaftliche Trends“, um den Zuhörern zu erklären, warum Deutschland seines Erachtens wegen seiner Einwanderer ins Hintertreffen gerate. „Wir werden auf natürlichem Wege durchschnittlich dümmer“, sagte Sarrazin und brachte die angeblich steigende Dummheit im Lande in Zusammenhang mit Zuwanderern „aus der Türkei, dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika“. Sie wiesen weniger Bildung auf als Einwanderer aus anderen Ländern. Einwanderer bekämen zudem mehr Kinder als Deutsche, sagte Sarrazin. Es gebe „eine unterschiedliche Vermehrung von Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlicher Intelligenz“, sagte der frühere SPD-Finanzsenator Berlins. Intelligenz werde von Eltern an Kinder weitergegeben, der Erbanteil liege bei fast 80 Prozent. „Einige der Zuhörer reagierten laut dpa mit einem Schmunzeln, erkennbare Unmutsäußerungen gab es nicht.“ (Spiegel Online v. 10.6.2010) Hieran erkennt man bereits, dass weniger der notorische Sozialrassismus Sarrazins das Problem ist, als die vielen heimlichen und offenen Unterstützer seiner Hetzreden in den Eliten von Medien, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft in Deutschland.
Wissenschaftler, wie der Bremer Professor für Sozialpädagogik, Gunnar Heinsohn, versuchen unterdessen deutlich zu machen, dass Armut ausschließlich durch das Vermehrungsverhalten armer Menschen verursacht sei, da diese Kinder nur als Geldanlage produzierten: „Solange die Regierung das Recht auf Kinder als Recht auf beliebig viel öffentlich zu finanzierenden Nachwuchs auslegt, werden Frauen der Unterschicht ihre Schwangerschaften als Kapital ansehen“ (FAZ v. 16.3.2010). Da Kinder aus bildungsfernen Schichten für Heinsohn praktisch qua Geburt grundsätzlich zu den „Niedrigleistern“ gehören, naturgemäß als Frauen „durch Vermehrung nach Einkommen streben“ und als Männer, zumal mit Migrationshintergrund, einzig und allein kriminell vorstellbar sind, erklärt er sie auch gleich noch für beinahe lebensunwert. „Ungeborene können niemandem einen Baseballschläger über den Kopf ziehen, aber sie können auch von niemandem erniedrigt oder beleidigt werden“ (WELT v. 9.2.2010). An dieser volksverhetzenden Propaganda wird ganz gut deutlich, dass man Menschen am besten ideologisch zunächst ihre menschliche Würde nimmt, um ihnen danach auch ihre sozialen Rechte streitig zu machen. In diesem biologistischen Menschenbild sind sowohl der Intelligenzquotient als auch der Schulabbruch bereits am Tage der Geburt anhand der sozialen Herkunft eines Kindes festgelegt. Deshalb kann sich Heinsohn auch die mangelhaften Bildungschancen von Migrantenkindern in Deutschland nicht mit strukturellen Problemen im mehrgliedrigen Bildungssystem erklären, sondern nur folgendermaßen: „Schon die Eltern unserer Einwanderungskinder waren schlecht in der Schule“ (ebd.). Ähnlich erläutert Sarrazin Behinderungen und Misserfolge von muslimischen Kindern im deutschen Schulsystem lieber mit vorausgegangener „Inzucht“. Statt selektiver Bildungsstruktur und jahrzehntelanger Ausgrenzung seien vielmehr „Erbfaktoren“ für das Versagen von Teilen der türkischen Bevölkerung im deutschen Schulsystem verantwortlich (Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, 2010: 316).
Sozial-rassistische Einstellungen stellen einen fundamentalen Widerspruch zum Geist und Gehalt des Grundgesetzes dar (mindestens Art. 1 und 20 GG). Dabei handelt es sich um eine moderne Form des akademischen (Sozial-)Rassismus, dessen Rassenideologie in Menschen (fast) jeglicher Religion oder Hautfarbe aus der Unterschicht eine Art Unterrasse von ewigen „Niedrigleistern“ erblickt und umgekehrt beruflich erfolgreiche Menschen (fast) jeglicher Hautfarbe und Religion als eine Art Oberrasse der geborenen „Leistungsträger“ begreift. Seine sozial-eugenische Note erhält dieses Denken auch durch schlicht bevölkerungspolitische (Falsch-)Aussagen wie: „In Deutschland kriegen die Falschen die Kinder. Es ist falsch, dass in diesem Land nur die sozial Schwachen die Kinder kriegen" (siehe FDP-Politiker Bahr, in: Tagesschau.de v. 24.1.2005).
Die Auswirkungen dieser sozialrassistischen Diskurse auf den Alltagsverstand und das Selbstverständnis von (sozial benachteiligten) Heranwachsenden sind nicht zu unterschätzen. Berichte von Kindern (über ihre Angst davor), auf dem Schulhof als „Hartzer“ oder „Opfer“ beschimpft zu werden, verdeutlichen dies. Denn natürlich prägen solche unsolidarischen Einstellungen und Verhaltensweisen auch das Denken und Handeln Jugendlicher. Außerdem ist es für Kinder sicherlich nicht einfach, tagtäglich lesen oder sehen zu müssen, dass ihre erwerbslosen Eltern als „faule und asoziale Sozialschmarotzer“ bezeichnet werden. Befragungen junger Erwachsener im Alter von 18 bis 24 Jahren durch das Marktforschungsinstitut Rheingold ergaben: „Panische Absturzangst, massiver Anpassungswille sowie Verachtung für alle, die abgerutscht sind“, seien die zentralen Denk- und Verhaltensmuster vieler junger Erwachsener. „Die Resultate erinnern an die Sarrazin-Debatte. Damit ist die Zwei-Klassen-Gesellschaft angekommen im Denken der Heranwachsenden“ (FR v. 12.9.2010). Bestätigt werden diese Ergebnisse auch von der Sinus-Jugendstudie 2012 zu Lebenswelten und -Einstellungen von 14- bis 17jährigen: „Angst vor Überfremdung und eigenem Abstieg äußerten dabei vor allem die Jugendlichen aus der Mittelschicht. Sie werfen den benachteiligten Altersgenossen auch vor, nicht genügend leistungsbereit zu sein.“ (FR v. 28.3.2012)
Durch Verabsolutiertierung von Demografie und Generationengerechtigkeit werden soziale Ungleichheitsstrukturen innerhalb von Bevölkerungsentwicklungen und Generationenverhältnissen ausgeblendet. Im Zusammenhang mit Forderungen nach mehr Demografiefestigkeit und Generationengerechtigkeit lässt sich zudem feststellen, dass unterschiedliche soziale Gruppen gegeneinander aufgehetzt und ausgespielt werden, zugunsten mächtiger Sozialschichten und deren sozioökonomischen Interessen. Mittels der genannten Deutungsmuster werden soziale Fragen und politische Probleme in biologische und ethnisierende Sachzwänge transformiert. Ihre ideologische Funktion besteht zumeist in der argumentativen Begründung und Vorbereitung von Sozialstaatsreduktionen und der Privatisierung sozialer Sicherungssysteme.
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