Die Gaste
ÝKÝ AYLIK TÜRKÇE GAZETE
ISSN 2194-2668
DÝL VE EÐÝTÝMÝ DESTEKLEMEK ÝÇÝN ÝNÝSÝYATÝF
(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)


  • SONRAKÝ YAZI
  • ÖNCEKÝ YAZI
    Ausgabe 13 / Juli-Oktober 2010



    Die Gaste Ausgabe 13 / Juli-Oktober 2010

     
     

    Die Gaste

    ÝKÝ AYLIK TÜRKÇE GAZETE

    ISSN 2194-2668

    DÝL VE EÐÝTÝMÝ DESTEKLEMEK ÝÇÝN
    ÝNÝSÝYATÝF

    Yayýn Sorumlusu (ViSdP):
    Engin Kunter


    diegaste@yahoo.com



    Kinderarmut und Migration
    [Çocuklarda Yoksulluk ve Göç]


    Carolin BUTTERWEGGE
    NRW Eyalet Parlementosu Milletvekili (Linke)




        1. Kinderarmut in Migrantenfamilien: Ausmaß und Risikogruppen

        Die überdurchschnittlich hohe Armut unter Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien ist zwar vielfach in ihrem Ausmaß belegt, wurde aber höchst selten in ihren Auswirkungen und Ursachen hinterfragt. Valide Daten für das Ausmaß an Armut innerhalb der Bevölkerung mit Zuwanderungsgeschichte gab es jahrzehntelang kaum, da die verschiedenen Be-völkerungsstatistiken nur Ausländer und Deutsche, oder, wie das Sozio-ökonomische Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, lediglich die größten Herkunftsgruppen der nichtdeutschen Wohnbevölkerung umschloss. Erst 2005 ging der Mikrozensus, der als amtliche Bevölkerungsstatistik jährlich ein Prozent der Bevölkerung befragt, von der Unterscheidung zwi-schen Deutschen bzw. Nichtdeutschen zu einer umfassenderen Differenzierung des Migrationshin-tergrundes über. Seine Daten belegen mittels der so genannten Armutsrisikoquote, dass die Bevöl-kerung mit Migrationshintergrund mit 28 Prozent um mehr als das Zweieinhalbfache häufiger von Armut betroffen ist als die einheimische (11 Prozent). Gleichzeitig war ein Fünftel der Spätaus-siedler arm, während es bei Eingebürgerten bzw. als Deutschen geborenen Kindern von Zuwande-rern 24 Prozent waren. Am häufigsten in Armut lebten mit 34 Prozent hier geborene Ausländer bzw. Menschen, die selbst eingewandert sind.

        Noch größere Unterschiede offenbaren sich, wenn man Kinder und Jugendliche in den Blick nimmt, deren Armutsrisiken generell steigen, je jünger sie sind. Laut drittem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2008: 141) lag die Armutsrisikoquote, d.h. die Wahrscheinlichkeit, in Familien mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze aufzuwachsen, bei Unter-15-Jährigen mit Migrationshintergrund im Jahr 2005 fast drei Mal so hoch wie jene einheimischer Gleichaltriger: Im Durchschnitt 32 Prozent der Ersteren und „bloß“ ca. 13 Prozent der Letzteren lebten in einkommensarmen Haushaltsgemeinschaften. Dabei entsprach die Armuts-grenze 60 Prozent des Medians vom sog. Nettoäquivalenzeinkommen bzw. 736 Euro je Einzelper-son und Monat.

        Diese Dramatik der hohen Armutsbetroffenheit unter Kindern mit Migrations-hintergrund macht auch ein Bericht der nordrhein-westfälischen Landesregierung zu prekären Le-benslagen deutlich, der auf einer Armutsgrenze von weniger als der Hälfte des Durchschnitts vom Nettoäquivalenzeinkommen – 2005 rund 615 Euro pro Monat für eine Singleperson – basiert. Ausgehend von landesspezifischen Daten des Mikrozensus bezifferte der Bericht die Anzahl von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auf insgesamt 1,1 Millionen, was einem An-teil von 35 Prozent aller Unter-18-Jährigen entspricht. Von diesen lebten 41,4 Prozent oder 455.000 in einkommensarmen Haushalten, wobei es im Landesdurchschnitt aller Kinder und Ju-gendlichen 24 Prozent waren. Die Minderjährigen mit ausländischem Pass lebten mit 55 Prozent sogar zu mehr als der Hälfte und jene mit deutschem Pass (aber einem Migrationshintergrund) mit 35 Prozent zu mehr als einem Drittel in Armut. Zusammengenommen hatten mit 60 Prozent mehr als die Hälfte aller einkommensarmen Kinder in Nordrhein-Westfalen einen Migrationshintergrund. Kinderarmut ist damit in Deutschland offensichtlich ein Phänomen, das sich vor allem nach dem Status einer Zuwanderungsvorgeschichte Betroffener verteilt.

        Auch regional und nach Größe des Wohnortes ergeben sich verschiedene Ar-mutsrisiken. Beispielsweise streut die Häufigkeit des Bezugs von SGB-II-Leistungen bei Unter-15-Jährigen in Nordrhein-Westfalen von 6 Prozent in Coesfeld bis zu 33 Prozent in Gelsenkirchen. Das Armutsrisiko steigt bei Menschen mit Migrationshintergrund zudem mit der Einwohnerzahl der Gemeinde. Die in (Groß-)Städten lebenden Migrant(inn)en tragen merklich höhere Armutsrisi-ken als die auf dem Land lebenden: In Gemeinden mit weniger als 20.000 Einwohner/innen waren im Jahr 2005 rund 23 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund arm, in Großstädten mit mehr als 200.000 Einwohner(inne)n waren es fast 32 Prozent. Noch größere Unterschiede offenba-ren sich bei kleinräumigeren Untersuchungen zwischen einzelnen Stadtteilen und Quartieren. Die Bundesintegrationsbeauftragte schlussfolgerte daraus, dass insgesamt 36 Prozent der armutsge-fährdeten Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund haben und sich die armutsge-fährdete Bevölkerung in Großstädten zu fast der Hälfte (48%) aus Personen mit Migrationshinter-grund zusammensetzte.

        Vor allem die sehr unterschiedlichen Armutsrisiken einzelner Herkunftsgruppen von Migrant(inn)en sind vielfach unterbelichtet. Über solche herkunftsgruppenspezifischen Armutsrisikoquoten, die sich im Zeitverlauf zum Teil sogar konträr entwickelt haben, gibt das So-zio-ökonomische Panel (SOEP) Auskunft, eine Wiederholungsbefragung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Der darauf basierende Datenreport 2008 des Statistischen Bundesamtes vergleicht die Jahre 2001 und 2006 miteinander, wobei als Armutsschwelle 60 Prozent des Medians vom Haushaltsäquivalenzeinkommen galt. Der Vorgängerbericht des Jahres 2006 verglich 1996 mit 2004, womit insgesamt die Entwicklungen im Zeitraum von 1996 bis 2006 sichtbar werden. Demnach hatten Zuwanderer aus der Türkei anfangs mit 39 Prozent die höchsten Armuts-risiken; es folgten Zuwanderer aus den Ländern des früheren Jugoslawiens (30%), Aussiedler/innen (20%), Zuwanderer aus Südwesteuropa (aus Spanien, Portugal, Italien und Griechenland mit 15%) und Deutsche (12%). Zehn Jahre später hatten die Zuwanderer aus den Ländern des früheren Jugoslawiens mit 32 Prozent Einkommensarmen jene aus der Türkei (mit 26%) als Gruppe mit den höchsten Armutsrisiken abgelöst; beiden folgten Aussiedler/innen (mit 21%) und Zuwanderer aus Südwesteuropa, die mit 15 Prozent eine noch geringere Armutsrisikoquote als Deutsche (mit 16%) aufwiesen.

        Im Zeitverlauf verminderten sich somit die Armutsrisiken von Migrant(inne)n aus Südwesteuropa und der Türkei (auf weiterhin hohem Niveau), während sie bei Aussied-ler(inne)n und Deutschen leicht und bei Ex-Jugoslaw(inn)en stark stiegen. Schließlich hatten Ein-gebürgerte aller Herkunftsgruppen die niedrigsten Armutsrisiken, mit einigem Abstand folgten die in Deutschland Geborenen. Allerdings verschleiern diese Daten mit einer sehr groben Herkunftsregioneneinteilung erhebliche Unterschiede innerhalb der einzelnen Herkunftsgruppen wie Migrant(inn)en spanischer und italienischer Herkunft, womit sie nur bedingt aussagekräftig sind. Problematisch ist, dass selbst statistische Befunde über einzelne Herkunftsgruppen, die auf nationalstaatlichen Grenzen basieren, Unschärfen bergen, so etwa bei einzelnen Ethnien aus dem früheren Jugoslawien oder bei Kurd(inn)en, die mehrheitlich über einen Status als politisch Ver-folgte und seltener über einen klassischen „Gastarbeiter“-Einwanderungshintergrund wie das Gros der türkischstämmigen Migrant(inn)en verfügen.

        Zusammenfassend ergeben die vielen Facetten der Armut von Familien und Kindern mit Migrationshintergrund ein ambivalentes sozialstrukturelles Bild: Einerseits gleicht sich die Einkommensstruktur der Eingebürgerten und der Zuwanderer aus westlichen Industrie- und EU-Ländern immer mehr jener der Einheimischen an, womit auch Wohlstand und Reichtum aufteten. Andererseits ist am armutsnahen Ende des Spektrums die Konzentration einiger Gruppen zu beobachten: Bei den statistisch Ausgewiesenen handelt es sich um ausländische Drittstaatler/innen wie Zuwanderer aus Ex-Jugoslawien oder der Türkei und in abgeschwächtem Maße um Angehörige neuer Zuwanderergruppen, die – wie viele Spätaussiedler/innen – erst wäh-rend der 1990er-Jahre eingereist waren.

        Schließlich gibt es einige kleinere Zuwanderergruppen, die noch wesentlich häufiger in Armut leben als die bis hier Genannten, was aber nur selten Erwähnung findet, weil herkömmliche, auf der registrierten Wohnbevölkerung beruhende Statistiken sie nicht erfassen: Dies sind insbesondere Flüchtlinge aus Nicht-EU-Staaten, die (noch) nicht dauerhaft aufenthalts-berechtigt sind, sowie Menschen, die ohne Aufenthaltspapiere als sog. Illegale (nachfolgend: „Illegalisierte“) weitgehend rechtlos in Deutschland leben. Ihre Armutsrisiken werden in der Ar-mutsforschung kaum thematisiert, zum einen weil sie von haushaltsbezogenen Statistiken wie dem SOEP nicht erfasst werden, und zum anderen, weil es sich um sehr kleine Fallzahlen einzelner Na-tionalitäten und um ethnisch-kulturell und aufenthaltsrechtlich äußerst heterogene Gruppen han-delt. Einig ist sich die Fachwelt weitgehend darin, dass besonders Migrant(inn)en, die Asylbewer-ber(sach)leistungen beziehen, in staatlich induzierter Armut leben, ebenso wie jene mit nachrangi-gem oder keinem Zugang zum legalen Arbeitsmarkt. Für die am stärksten armutsbedrohten Migrantengruppen sind somit besonders große Forschungsdesiderate in Bezug auf Armutsrisiken zu konstatieren.

        2. Einflussfaktoren und Ursachen

        Die Armutsrisiken von Zuwanderern werden in der Regel ausschließlich auf ihre soziodemografischen und -ökonomischen Merkmale (deutlich jüngere und größere Haushalte, geringere Bildungs- und Berufsabschlüsse), eine „fremdkulturelle“ Herkunft oder migrationsbezo-gene Individualmerkmale wie eine geringe Aufenthaltsdauer oder Deutschkompetenz zurückge-führt. Richtig ist, dass besonders die sozialstrukturellen Merkmale kinderreich, erwerbslos, allein-erziehend, jung und formal niedrig qualifiziert das Armutsrisiko erhöhen. Die meisten Erklärungs-versuche für migrationsspezifische Armutsrisiken verkürzen aber die überaus komplexen, struktu-rellen Wirkungszusammenhänge auf diese überwiegend personalen Einflussfaktoren. Soziodemo-grafische und -ökonomische Merkmale der zugewanderten Bevölkerung sowie die häufig allein angeführten sprachlichen und qualifikatorischen „Defizite“ reichen als alleinige Erklärungsfaktoren jedoch bei Weitem nicht aus, wie z.B. die überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit hochqua-lifizierter Zuwanderer belegt.

        Vielmehr sind die Ursachen für die Armutsrisiken von Migrantenkindern so-wohl in migrationshistorischen als auch in jüngeren Prozessen einer neoliberalen Modernisierung der Gesellschaft, mithin also in einem ganzen Bündel von individuellen und familiären, institutio-nellen, geschichtlichen und aktuell wirksamen strukturellen Bedingungsfaktoren zu suchen. So be-günstigte die historische Anwerbe- und Migrationspolitik die als „ethnische Unterschichtung“ be-schriebene Eingliederung der nur als „vorübergehende Gäste“ Wahrgenommenen in die untersten Ränge der gesellschaftlichen Statushierarchie. Da die Angeworbenen traditionell aus „bildungsfer-nen“ Milieus kamen, geringe Deutschkenntnisse aufwiesen und als Un- bzw. Angelernte vornehm-lich in unattraktiven (weil niedrig entlohnten) Berufen arbeiteten, wurden ihre gestiegenen Ar-mutsrisiken kaum hinterfragt und jegliche Integrationsförderung unterblieb ob des regierungsoffi-ziösen Dogmas, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland.

        Mit der wachsenden Ausdifferenzierung der Migrationsformen und -bevölkerung sowie den gestiegenen Armutsrisiken der zweiten, häufig wesentlich höher qualifi-zierten Generation rückt indes die Frage der intergenerationalen „Vererbung“ von Armutsrisiken durch aktuell wirksame Einflussfaktoren in den Fokus. Hierzu ist festzustellen, dass der generelle Anstieg der Kinderarmut in Deutschland insgesamt durch einen neoliberalen Um- bzw. Abbau des Sozialstaates begünstigt wird, der über eine Reprivatisierung sozialer Risiken eine Infantilisierung bzw. Maternalisierung der Armut befördert. Dies drückt sich in überproportionalen Armutsrisiken von Kindern bzw. von Müttern mit im selben Haushalt lebenden Kindern aus. Migrant(inn)en sind hiervon tendenziell eher betroffen, weil sie in eben jenen Personengruppen stark vertreten sind, die auch in der Gesamtbevölkerung hohe Armutsrisiken tragen.

        Speziell im Bereich des Arbeitsmarktes verstärken sich die Risiken durch Segmentationstendenzen des Arbeitsmarktes. Einer Mehrheit von Kernbelegschaften mit guten Löhnen und sicheren Arbeitsplätzen steht eine wachsende Minderheit von prekär beschäftigten Arbeitnehmer(inne)n gegenüber. Ihre Situation ist geprägt durch Leih- und Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigungsverhältnisse und Niedriglöhne, bei der selbst Vollzeiterwerbstätige den Lebens-unterhalt (besonders von kinderreichen und alleinerziehenden) Familien kaum mehr eigenständig sichern können – und Migrant(inn)en sind hiervon besonders betroffen. Hinzu kommen im Bil-dungsbereich, der besonders hinsichtlich der intergenerationalen Vererbung von Armut interessiert, Mechanismen indirekter Diskriminierung, die als „weiche“ Zugangsbarrieren z.B. Teilen der zweiten Generation eine gleichberechtigte Teilhabe im (Aus-)Bildungsbereich verwehren. Die Grundlagen für eine Bildungsbenachteiligung aufgrund der sozialen oder ethnischen Herkunft werden aber bereits bei Vorschulkindern als Auffälligkeiten u.a. im kulturellen Bereich gelegt; als weitere Bedingungsfaktoren gelten Schulübergangsempfehlungen, die zu frühe Selektion nach Schulformen sowie länderspezifische Schulangebots- und Zugangsstrukturen.

        Strukturelle Bedingungsfaktoren für die Armutsrisiken der Zuwanderer sind somit einerseits sozial- und arbeitsmarktpolitische Entwicklungen wie die Einführung der sog. Hartz-Gesetze. Andererseits determinieren bei Nichtdeutschen ausländerrechtliche Restriktionen die individuellen Handlungsspielräume viel ausgeprägter als bei Einheimischen oder Aussied-ler(inne)n, indem sie vorgeben, welche Migrant(inn)en einen nachrangigen oder gar keinen Ar-beitsmarktzugang erhalten, wer Sprachförderung erhält und auf welche Flüchtlingsgruppen der Asylbewerberleistungsbezug ausgedehnt wird. Damit tragen das Ausländerrecht und die ihm zu-grunde liegenden integrationspolitischen Entscheidungen seit langem dazu bei, ein hierarchisch stratifiziertes System der sozialen, arbeitsmarktbezogenen und politischen Teilhaberechte bzw. -chancen von Migrant(inn)en zu konstituieren und zu stabilisieren, das sich mittelbar in den finan-ziellen Spielräumen Betroffener niederschlägt.

        Die spezifischen Einkommenslagen vornehmlich der nichtdeutschen Bevölke-rung sind somit auch ein Resultat der Ausländerpolitik, die Gruppen wie EU-Bürger/innen, Drittstaatler/innen und Neuzuwanderer mit äußerst unterschiedlichen (Teilhabe-)Rechten ausstat-tet, etwa bezüglich der Arbeitsmarktzugangs oder der Inanspruchnahme sozialer Sicherungsleis-tungen (z.B. Sozialhilfe-, Asylbewerber- und Alg-II-Leistungen, Kindergeld), womit sich ethnisierte Armutsrisiken stetig neu reproduzieren. Indem die deutsche Migrationspolitik manchen Betroffenen ohne dauerhafte Bleibeperspektive die gleichberechtigte Teilhabe verwehrt, wohnt ihr eine Diskriminierungstendenz inne, die in der Migrationsbevölkerung ein System sozialer Un-gleichheit entlang ausländerrechtlicher Statusgruppen etabliert hat. Es wurde und wird durch zahl-reiche Reformen im Ausländer- und Sozialrecht immer weiter ausdifferenziert und zementiert, wo-raus sich für Betroffene ein Spannungsfeld zwischen Integration und sozialer Exklusion ergibt. Migrantenkinder mit unsicherem Aufenthaltsstatus oder aus illegalisierten Familien sind das schwächste Glied in dieser Kette, und ihre menschenrechtlich prekäre Lebenssituation bedarf eines weit größeren Verantwortungsbewusstseins der politischen Entscheidungsträger/innen.

        3. Politische Ansatzpunkte

        Einige Thesen zur politischen Bekämpfung der höheren Armutsrisiken und -betroffenheiten von Kindern, besonders solcher mit Migrationshintergrund, lassen schließlich weiteren Forschungsbedarf zu Ursachen und Möglichkeiten ihrer Bekämpfung erkennen.

          1. Um die Kinderarmut in kinderreichen Familien (darunter vielen mit Migrationshintergrund) sofort wirksam zu bekämpfen, ist eine verbesserte sozialstaatliche Absicherung der Kosten einer Familie – insbesondere in Form eines höheren Familienlastenausgleichs – notwendig, von dem besonders Geringverdiener/innen und arme Familienhaushalte z.B. im SGB-II- oder Sozialhilfebezug profitieren.

          2. Um die strukturellen Ursachen der auf atypische Beschäftigung und Niedriglöhne zurückgehenden Armut von Familien Erwerbstätiger – darunter viele kinderreiche Arbeiter/innen mit Migrationshintergrund – zu bekämpfen, wäre ein Maßnahmebündel notwendig, das gewährleistet, dass auch kinderreiche Familien von Arbeit wieder leben können. Dazu zählen insbesondere gesetzliche Maßnahmen zur Re-Regulierung des Arbeitsmarktes, regelmäßige Reallohnerhöhungen sowie ein branchenübergreifender gesetzlicher Mindestlohn.

          3. Um die hohen Armutsrisiken von Kindern erwerbsloser Eltern zu mindern und ihnen ein kindgerechtes, altersspezifisches Auskommen zu garantieren, ist eine deutliche Erhöhung der Sozialgeldsätze für Kinder und deren altersgemäße Staffelung empfehlenswert.

          4. Um die hohen Armutsrisiken von Kindern Alleinerziehende r zu senken, ist neben einer leichteren Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen ein zügiger Ausbau der Betreuungsplätze für Unter-3-Jährige besonders in Westdeutschland sowie die Einführung eines Rechtsanspruchs auf kostenlose Kindertagesbetreuung ab dem 4. Lebensmonat notwendig, der Müttern eine volle Teilhabe am Erwerbsleben ermöglicht.

          5. Um die Armutsrisiken von Kindern aus Spätaussiedlerfamilien zu senken, sind verstärkte Angebote zur Eingliederungs- und Deutschförderung sowie zur beruflichen Qualifizierung der Jugendlichen und ihrer Familienangehörigen sinnvoll.

          6. Um die Armutsrisiken von Kindern mit ungefestigtem Aufenthaltsstatus besonders aus Drittstaaten wie der Türkei und Ex-Jugoslawien zu senken, sollte das Ausländerrecht konsequent zu einem Integrations- und Gleichbehandlungsrecht ausgebaut werden, in dem alle Migrant(inn)en und Einheimische unabhängig von ihrer Herkunftsnationalität die gleichen sozialen und arbeitsmarktbezogenen Rechte erhalten. Dazu zählt insbesondere eine Angleichung der Rechtsstellung von Menschen aus Drittstaaten an jene von EU-Bürger/innen, beispielsweise im Arbeitsmarkt durch Verzicht auf das Vorrangprinzip.

          7. Um die Armutsrisiken von Flüchtlingskindern mit prekärem Status abzubauen, ist zuvorderst ihre Ausgrenzung aus dem für Deutsche und andere Ausländer/innen geltenden System sozialer Sicherung aufzuheben, indem man das Asylbewerberleistungsgesetz abschafft.

          8. Um die Verletzungen der Rechte von illegalisierten Kindern zu stoppen, sind zunächst (gesetzliche) Maßnahmen notwendig, die ihnen den Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem eröffnen. Legalisierungsofferten nach spanischem Vorbild könnten die u.a. durch Rechtlosigkeit und Armut geprägte Lebenssituation der Familien massiv verbessern und ihnen die Chance auf eine eigenständige, legale Sicherung ihres Lebensunterhaltes eröffnen.

          9. Um der Vererbung von Bildungsarmut bei Kindern mit Migrationshintergrund vorzubeugen, ist unter anderem eine Neuausrichtung des Schulsystems notwendig, damit Schüler/innen je nach Begabung individuell gefördert und nicht nach sozialer und ethnischer Herkunft selektiert werden, wie es beispielsweise Konzepte von „einer Schule für alle“ Kinder bis zum zehnten Schuljahr anstreben.

          10. Um berufliche Nachteile von Zuwanderern zu mindern, empfehlen sich eine Erleichterung der Anerkennung im Ausland erworbener Berufsabschlüsse und eine konsequente Gleichbehandlungs- bzw. Antidiskriminierungspolitik im Bereich von Beschäftigung und Beruf.

          11. Um die Kinderarmut vor Ort in benachteiligten Sozialräumen zu bekämpfen, sind vielfältige Anstrengungen der Kommune, des Landes und des Bundes, ganz besonders aber der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe notwendig. Die Kürzungen bei Kinder- und Jugendfreizeitprojekten müssten zurückgenommen und es sollten kostenlose (Vereins-)Angebote in den Bereichen Sport und Kinderkultur sowie Präventionsangebote für Eltern besonders in benachteiligten Stadtteilen ausgebaut werden.


       
         
        Literatur:
        Auernheimer, Georg (Hrsg.): Schieflagen im Bildungssystem. Die Benachteiligung der Migran-tenkinder, 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010
        Boos-Nünning, Ursula (2000): Armut von Kindern aus Zuwandererfamilien, in: Christoph Butterwegge (Hrsg.), Kinderarmut in Deutschland. Ursachen, Erscheinungsformen und Gegen-maßnahmen, Frankfurt am Main/New York: Campus, S. 150-173
        Butterwegge, Carolin: Armut von Kindern mit Migrationshintergrund. Ausmaß, Erscheinungsfor-men und Ursachen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010
        Butterwegge, Christoph/Klundt, Michael/Belke-Zeng, Matthias: Kinderarmut in Ost- und West-deutschland, 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008
        Gomolla, Mechthild/ Radtke, Frank-Olaf: Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethni-scher Differenz in der Schule, Opladen: Leske & Budrich 2002
        Hanesch, Walter/Krause, Peter/Bäcker Gerhard: Armut und Ungleichheit in Deutschland. Der neue Armutsbericht der Hans-Böckler-Stiftung, des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000
        Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Sozial-berichterstattung des Landes Nordrhein-Westfalen. Prekäre Lebenslagen von Kindern und Jugend-lichen in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2009
        Mohr, Kathrin: Stratifizierte Rechte und soziale Exklusion von Migranten im Wohlfahrtsstaat, in: Zeitschrift für Soziologie 5/2005, S. 383-398