Niemand weiß so recht, worum es eigentlich bei der Integrations-debatte in Deutschland wirklich geht. Jeder versteht darunter etwas anders. Auch der Blick ins Fremdwörterbuch hilft nicht weiter. Das Wort bedeutet nämlich ursprünglich “Wiedereingliederung”. Allein schon wegen dieser diffusen Ausgangslage ist klar, dass die Debatte ausufert und sich zu einer endlosen Geschichte entwickelt.
Freilich, wenn man genauer hin zu schauen versucht, werden zumindest Anklänge an den ursprünglichen Wortsinn erkennbar. Allerdings geht es in den Debatten nicht um die “Wiedereingliederung” von etwas, sondern eher um die “Wiederherstellung” von etwas, was irgendwie in Turbulenzen geratenen ist. Die Verwirrung entsteht, weil man nicht so genau angeben kann, was da wieder hergestellt werden soll: eine einstmals heile Welt, ein konservatives Weltbild, das christliche Abendland? Und man weiß auch nicht genau, was die Turbulenzen ausmacht, etwas “Gefühltes”, gesellschaftliche Verwerfungen, Krisen oder Konflikte? Und muss man sich ihnen wirklich stellen, oder kann man sie aussitzen?
Vielleicht hilft ja ein Blick in die Gesellschaftswissenschaften weiter, ein Blick auf Überlegungen zu jenen mehr oder weniger erahnten Turbulenzen – solchen Turbulenzen, die im Verdacht stehen, diese unendliche Debatte hervorgerufen und sie immer wieder befeuert zu haben:
a) Die Globalisierung und der technologische Wandel haben das Alltagsleben aller Gesellschaften, so auch das Leben in Deutschland massiv verändert. Stadtgesellschaften haben den Siegeszug angetreten und mit ihnen alles, was typisch für Stadtgesellschaften ist. Bodenständigkeit, Standorttreue, familiale, religiöse und traditionelle Bindungen nehmen ab. Man bindet sich später, heiratet oft gar nicht mehr, hat nur noch wenige Kinder oder lebt als Single. Zugleich lebt man mobiler, pragmatischer, weltoffener und orientiert sich an globalen Moden und Trends, wie sie der Markt und die Medien bieten. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass an die Stelle der Bodenständigkeit Mobilität und Globalität getreten sind.
Es ist klar, dass unter diesen Bedingungen das Zusammenleben innerhalb einer Gesellschaft von allen (wie lange auch immer man schon vor Ort ist) immer wieder neu abgestimmt und angepasst werden muss. Und es ist auch klar, dass damit die Anforderungen für den einzelnen steigen. Man kann sich nicht mehr darauf beschränken, einfach so wie gewohnt weiter zu machen. Man muss sich immer wieder neu arrangieren und kommt heute auch schnell unter die Räder. Man kann viel gewinnen, muss aber ständig aktiv sein und kann auch viel verlieren. Eine solche Situation fordert nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Gesellschaft insgesamt. Die Politik muss sensibel auf diesen Wandel reagieren. Sie muss insbesondere darauf achten, dass Angeboten zur Verfügung stehen, Bildungsangebote, Beratung und Informationen, um den einzelnen für diesen zunehmenden Wandel fitt zu machen. Es ist klar, das damit auch das urbane Zusammenleben und der gesellschaftliche Zusammenhalt zu einer wichtigen Herausforderung werden. Hier sind auf beiden Seiten Wissen, Kompetenzen und Engagement gefordert.
b) Mit dem beschleunigten Wandel, speziell der fortschreitenden Globalisierung hat sich auch das Alltagsleben vor Ort gewandelt. Der Alltag ist unterschiedlicher (“bunter”) geworden. Man spricht zu Recht von einer Diversifizierung des Alltags. Das hat dazu geführt, dass man sich zunehmend in sehr unterschiedlichen Situationen mit sehr unterschiedlichen Regeln bewegen muss und immer wieder auf Dinge trifft, die man so noch nicht gewohnt ist. Das ist sicherlich anregend und motivierend und eröffnet das neue Erfahrungs- und Freiheitsspielräume. Man stellt sich auf neue Möglichkeiten ein, ändert seine Alltags–, Lebens- und Sprachgewohnheiten.
Allerdings verschwinden aber auch manche Dinge, die einem lieb und teurer waren. Es findet eine Art Demokratisierung des Alltags statt. Man kann sich nicht mehr auf sein Gewohnheitsrecht berufen. Wenn man mithalten will, muss man versuchen, den Anschluss zu halten. Dies gilt im Blick auf Arbeit genauso wie im Blick auf Politik wie auf Freunde und Bekannte. Eine Gesellschaft muss hier darauf achten, dass die Bevölkerung den Zugang zu allen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen hat, dass ausreichend Arbeitsplätze da sind, dass die Menschen an der Gestaltung der Gesellschaft, besonders an der Politik beteiligt werden, dass das Gesundheitssystem funktioniert. Auch aus dieser Alltagsperspektive wird also das urbane Zusammenleben zu einem zentralen Thema. Hier ist eine Zivilgesellschaft gefragt.
c) Nun sind die durch die Globalisierung und den technologischen Wandel erzeugten Veränderungen auch für die Ordnung bzw. die Struktur der Gesellschaft eine Herausforderung. Die Gesellschaft muss als solche nach innen beweglicher und nach außen offener werden. Was im Blick auf den Alltag gesagt wurde, das gilt im Grunde auch hier. Die Strukturen werden globaler, die Bedeutung der Nationalstaaten geht zurück und die überkommenen Machtstrukturen, die Aufteilung des gesellschaftlichen Reichtums usw. werden zunehmend fraglich.
Es ist klar, dass diejenigen, die sich im Nationalstaat bequem eingerichtet haben, Probleme bekommen und leicht dazu verführt werden, sich im gestern einzugraben, statt den Wandel ernst zu nehmen. Seit Jahren erleben wir die Konflikte zwischen den Vertreterinnen des alten Nationalstaates und den Vorreitern der Postmoderne, der Multikulturalität, der globalen Öffnung und des Kosmopolitismus. Diese Konflikte sind in Deutschland besonders ausgeprägt, weil sie oft zwischen den Alteingesessenen und den beweglicheren Menschen, hier oft einer engagierten Zivilgesellschaft bzw. mobilitätserfahrenen Einwanderern ausgetragen werden. Allerdings werden diese Konflikte nicht offen diskutiert, schon weil die politische Öffentlichkeit diesen oben skizzierten Wandel seit vielen Jahren verdrängt, ja verleugnet. Sie spürt, dass mit dem Wandel ihre sicher geglaubten Anrechte, nämlich die gewohnte Beteiligung an der Macht schwindet. Sie reagiert deshalb populistisch und versucht das nationalstaatliche Denken an den Stammtischen für sich zu mobilisieren. Und das bedeutet, gegen die multikulturelle Postmoderne, gegen den “Ausländer”, gegen den “Fremden”, gegen den “Andersgläubigen” usw. vorzugehen. So beobachten wir seit 1976, also seit nunmehr 34 Jahren in allen politisch brisanten Situationen (Wahlen, Wirtschaftskrisen usw.), wie vorzugsweise gegen den “anderen” polemisiert wird. Seit die EU ihre Mitglieder schützt, sind es “nur noch” die “sonstigen anderen”, bei uns vorzugsweise die türkische Bevölkerungsgruppe, aber eben auch die Sinti und Roma aus dem Kosovo, die Flüchtlinge usw.
Die aktuelle Integrationsdebatte speist sich aus einer verdrängten Konfliktlinie zwischen jenen, die die Erfahrung einer zunehmenden Globalisierung und Technisierung der Welt, der Kosmopolitisierung des Alltags und des Bedeutungsverlustes der Nationalstaaten gemacht haben, und denjenigen, die spüren, dass sie sich endlich auf diesen beschleunigten Wandel ganz neu einstellen müssen. Wer tut das schon gerne, wenn er fürchten muss, seine angestammten Ressourcen zu verlieren? Immerhin wäre es erforderlich, die gesellschaftlichen Instanzen angefangen bei den Kommunen und endend bei den staatlichen Institutionen neu auszutarieren. Man muss die Bildung, die Arbeit, das soziale Netz, das Religionsverständnis, die kulturellen Praktiken usw. völlig neu durchdenken und entsprechend der Diversifizierung der Gesellschaft neu ordnen. Wenn alles auf die Waagschale kommt, was bleibt dann von den gewohnten Privilegien übrig? Die Konfliktlinie will man nicht wahr haben und begibt sich damit in eine klassische Zwickmühle, eine Paradoxie!
Die Integrationsdebatte resultiert aus dieser paradoxen Situation. Einerseits gilt als gesellschaftliche Tatsache, dass sich die Alltagswelt massiv verändert hat, anderseits gilt aber auch, dass sich die gesellschaftlichen Instanzen diesen Veränderungen gegenüber blind stellen, weil sie fürchten, dass sich die Verhältnisse, die Machtverteilung usw. massiv verändern, nämlich demokratisieren würden. Das gilt im Kleinen wie im Großen. Die Regierung diskreditierte Einwanderung so lange, bis wir zu einer beständig schrumpfenden Auswanderungsgesellschaft geworden sind. Die Mittelschicht will keine Gesamtschulen, sondern beharrt auf dem Gymnasium, weil sie damit glaubt, die Konkurrenz für ihre Kinder besser klein halten zu können. Verwaltungen weigern sich, die Menschen ohne Ansehen ihrer Herkunft einzustellen, weil dann die Alteingesessenen nicht mehr privilegiert wären. Die Ausländerbehörden schieben sehr bildungserfolgreiche Kinder und Jugendliche samt Familien ab, weil sie die Bevölkerung von Ausbeutern und Fremdlingen frei halten wollen.
Die Integrationsdebatte befindet sich in der Zwickmühle. Stellt sie sich auf die Kosmopolitisierung des Alltags ein, müßte sie eine vielsprachige, multikulturelle, diversifizierte und zivilgesellschaftlich fundierte und rechtlich wohl durchdachte Gesellschaft fordern. Stellt sie sich auf die stagnierende politische Öffentlichkeit ein, muss sie den Ausbau des Nationalstaates fordern, muss sie eine Sprache, eine Religion, eine Tradition, eine Kultur, eine politische Klasse usw. forcieren.
Brisant ist diese Paradoxie weniger innerhalb einer abgehobenen Debatte, brisant wird sie dort, wo die Menschen sich tagtäglich bewegen. Wie soll man der Welt klar machen, dass man zwar Türkisch auf dem Schulhof verbieten will, aber gleichzeitig wünscht, dass man im Verlauf der Bildungskarriere mindestens ein Jahr im Ausland zubringt, um die dortige Sprachgemeinschaft einzutauchen? Wie soll man vermitteln, dass man einst Gastarbeiter erfolgreich dazu gebraucht hat, die Unterschicht aufzufüllen, ihr aber heute vorwirft, dass sie proletarisiert ist? Wie soll man erklären, dass einerseits innerhalb des Christentums seit fünfhundert Jahre vergeblich ein ökumenischer Dialog geführt wird, man aber anderseits erwartet, dass sich der Islam binnen weniger Jahre dem Anliegen des Christentums öffnet? Wie soll man begreifen, dass man vom Einwanderer einen Staatsbürgertest verlangt, während die eigenen Staatsbürger die Grundlagen ihrer Gesellschaft erfolgreich ignorieren?
Die Integrationsdebatte kann diese Zwickmühle nicht lösen, solange sie so irrational geführt wird. Sie muss sich letztlich entscheiden.
a) Entweder schwenkt man in der Debatte voll auf die kulturrassistische Linie von Sarrazin, Giordano, Seehofer und anderen ein. Je inkompetenter die Stellungnahme, um so größer die Resonanz an den Stammtischen. Dabei wird aus Integration schnell Assimilation einerseits und Ausgrenzung anderseits. Vielleicht ist es da noch besser, es bleibt bei der Beschwörung der Paradoxie, beim gewohnten Durchwursteln bzw. beim Aussitzen, so wie das die Bunderegierung mal wieder praktiziert. Die Kosten für diesen Weg dürften allerdings weiter ansteigen: ein ineffektives Bildungssystem, eine weitere Zerrüttung des urbanen Zusammenhalts, eine zunehmende Abwanderung engagierter Bevölkerung, eine fortschreitende Verarmung der unteren Bevölkerungsgruppen und ein noch intensiverer Abbau zivilgesellschaftlicher Standards. Man kann dann nur noch hoffen, dass transnationale Instanzen (angefangen bei der EU und endend bei globalen Institutionen) und die Zivilgesellschaft Druck ausüben, dass wenigstens die Mindeststandards eines urbanen Zusammenlebens unter den Bedingungen zunehmender Vielfalt gesichert bleiben.
b) Oder
man besinnt sich in der Debatte auf die postmoderne Wirklichkeit und die seit
Jahrhunderten entwickelten Erfahrungen der Bevölkerung im Umgang mit urbaner Vielfalt.
Dann wird aus Integration das Bemühen um ein wohlwollend distanziertes
Zusammenleben in einer kosmopolitisch gerahmten Alltagswelt, also das Bemühen
um einen kompetenten Umgang mit Vielfalt. Dann wird aus der Integrationspolitik
eine aktive Menschenrechtspolitik mit
• Gleichstellung hinsichtlich Arbeit, Bildung, Recht, Gesundheit usw.,
• Anerkennung im Blick auf den persönlichen Lebensstil, die verschiedenen religiöse Vorstellungen usw.
• Beteiligung im Blick auf die Zivilgesellschaft und generell die Öffentlichkeit.
In einer “postintegrativen” Debatte geht es um eine Politik, wie sie heute bereits in der Antidiskriminierungspolitik vertreten wird. Allerdings muss sie jetzt anders als in den Antidiskriminierungsrichtlinien im Sinn von Rechtspositionen positiv formuliert werden. Es zeichnet sich allmählich ab, dass sich zumindest Stadtgesellschaften allein schon aus pragmatischen Gründen für diesen Weg entscheiden und engagieren müssen. Die teils bereits “postintegrativen” Debatten in Städten wie Frankfurt, München oder Berlin zeigen, dass man an mehrsprachigen, multikulturellen, multireligiösen und milieumäßig bunt gemischten Wirklichkeiten nicht mehr vorbei kommt, ja in diesen Wirklichkeiten eine besondere Dynamik erkennt – eine Dynamik, die das Zusammenleben in der Postmoderne erfolgreich zu beschleunigen vermag. Statt weiter mystische Integrationsvorstellungen zu pflegen, sollte diese postintegrative Debatte um ein angemessenes Zusammenleben von allen hier betroffenen Gesellschaftmitgliedern intensiv gepflegt werden. Diese Debatte sollte weder allein von den Politikern noch allein von wohlmeinenden Initiativen oder paternalistischen Beiräten, sondern von allen Betroffenen auf gleicher Augenhöhe geführt werden. Und die Ergebnisse solcher Debatten sollten dann auch politisch umgesetzt werden.
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