Am 15. November 1792 hielt Georg Forster (1754-1794) im Mainzer Schloss seine große Rede „Über das Verhältnis der Mainzer gegen die Franken“. Im Schloss versammelten sich – nach der Vertreibung des Kurfürsten – die „Freunde der Freiheit und Gleichheit“, so nannte sich der Mainzer Jakobinerklub. Forster trat diesem Klub nur zögerlich bei, weil er Freunde im „älteren System“ hatte und weil er um die Schattenseiten der Revolution wusste. Er war Realist und vielleicht trat er gerade deshalb so uneingeschränkt für das friedliche Zusammenleben von Franken und Preußen, Franzosen und Deutschen ein – noch mehr freilich für die Demokratie. Mit der demokratischen Revolution sollte sowohl der feudalistischen Unfreiheit als auch dem Hass der Völker gegeneinander ein Ende gesetzt werden. Georg Forster repräsentiert den ersten ernsthaften Versuch in Deutschland, die Demokratie zu begründen und aufzubauen. Von der Mainzer Republik führen die Spuren demokratischen Denkens und Engagierens über das Hambacher Fest(1832) bis hin zur Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche (1848/49).
Am 2. Januar 2011 erhielt im Mainzer Schloss der publizistisch erfolgreiche Sozialdarwinist und Rassist Thilo Sarrazin einen Preis der Mainzer „Ranzengarde“, einer Organisation der Mainzer Fastnacht. In diesem Volksfest wurde vor langer Zeit der Spott gegen die Herrschenden gepflegt und mit ironischer Verkleidung und Nachahmung die Selbstdarstellung des Militarismus kritisiert. Jetzt aber hat sich der Humor in die Vororte zurückgezogen und die „Garden“, die sich in der Aufmachung noch an manchen Truppen orientieren, die einmal in Mainz stationiert waren, verwechseln ihre Ironie mit der Wirklichkeit und marschieren bierernst durch die Fastnacht – im militärischen Gehabe mögen sie die, die sie ursprünglich persifliert haben, noch übertreffen. Was als ironische Kritik gemeint war, hat sich verkehrt.
Die politisch bedeutsamen Verkehrungen kumulieren: Im kurfürstlichen Schloss war einmal die demokratische Rede gehalten und war die Völkerversöhnung gefordert worden, am gleichen Ort wird die Ablehnung und die Abwertung von Menschen, genauer: von benachteiligten Minderheiten, mit einem Preis ausgezeichnet. Georg Forster stand im aufklärerischen Kampf auch gegen die Untertanenmentalität, die ihre Frustration aggressiv gegen Fremde richtet; diese feiert „fröhlich“ Wiederkehr im Preis der Ranzengarde für Thilo Sarrazin.
Es geht dabei um Vieles, vor allem aber um die Demokratie. Sie erweist sich, nachdem der Kommunismus als Schreckbild verschwunden ist, immer mehr als hinderlich für die Durchsetzung der kapitalistischen Interessen. Die Anhäufung von Reichtum auf der einen Seite korrespondiert auf der anderen Seite mit der Ausdehnung von Armut. Der Finanzfeudalismus und vor allem der Schutzschirm für ihn wird von der Regierung als „alternativlos“ bezeichnet – also ist eine demokratische Willensbildung entbehrlich. Nach 60 Jahren Demokratie in Deutschland hält nur noch die Stabilität von Institutionen und die Zivilgesellschaft die „freiheitlich-demokratische“ Grundordnung aufrecht.
Da ist es besonders bemerkenswert, dass die Neu-Bürger, die Zugewanderten, die, die sich „integrieren“ sollen und dabei angeblich auch die Demokratie zu lernen haben, die, denen die Ungleichheit zugemutet wird, also dass genau diese Personen an die demokratischen Prinzipien erinnern und die Grundsätze von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit anmahnen und einklagen, die in der Verfassung des deutschen Staates niedergelegt sind.
In der Schrift „Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu“ (herausgegeben von Hilal Sezgin, Blumenbar Verlag Berlin 2011) werden diese Grundsätze von verschiedenen Seiten her beleuchtet und dienen als Grundlage für die Kritik am völkischen Nationalismus und Rassismus. Erfahrungsbasiert und wissenschaftsorientiert wird die Realität des multikulturellen Neben- und Miteinanders beschrieben, die Probleme der „Integration“ werden ins richtige Licht gesetzt und ihre Größenordnung wird angemessen eingeordnet. Vor einem kritischen Blick zerbröseln die ideologischen Schutzbehauptungen der Sarrazin-Rezeption und werden die Strukturen des Rassismus freigelegt.
Vielleicht kann man den Gegensatz zwischen Forster und Sarrazin, zwischen „Volksfreunden“ und „Garden“ nicht besser als an der unterschiedlichen Bedeutung eines einzigen Begriffs verdeutlichen. Für die einen ist der „deutsche Staat“ der Staat der Deutschen, der Volksgemeinschaft, des ethnos; für die anderen ist der „deutsche Staat“ der Staat der Menschen, die in Deutschland leben und sich zur Demokratie bekennen, der Staat des demos. Denn als demokratischer Staat will er die Menschenrechte realisieren, die auch außerhalb seiner Grenzen gelten sollen und deren Achtung sich der Staat und seine Bürger unterwerfen. Und als dieser demokratische Staat muss Deutschland sich neu erfinden. Denn sein Souverän, das Volk, das eine bunte Bevölkerung ist – wie es schon immer war -, hat sich gründlich und zusätzlich verändert.
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