Gegen die Einbeziehung des Herkunftssprachenunterrichts werden bildungspolitische Bedenken vorgebracht. Von grundsätzlichem Gewicht sind die Zweifel an seiner Effektivität. Hopf (2005; 2011) vertritt die These, dass die für den Herkunftssprachenunterricht aufgewendete Zeit dem Deutschlernen verloren gehe und daher den Schulerfolg beeinträchtige. Eine solche abträgliche Rivalität der Sprachen ist aber nicht nachweisbar, empirische Untersuchungen zeigen, dass sich der Herkunftssprachenunterricht nicht negativ auf die Kenntnisse in der Sprache des Einwanderungslandes auswirkt (Söhn 2005).
Herkunftssprachen von Migranten sind Teil des Sprachenangebots der Sekundarschulen in Deutschland – seit langem, in beträchtlicher Zahl und mit einem nennenswerten Aufkommen an Schülern. Diese Tatsache ist der pädagogischen Öffentlichkeit nicht durchgehend bewusst und wird nur sehr selten zur Gestaltung von Schulprofilen genutzt. Es ist aber zu fragen, ob im Rahmen der aktuellen Politik der Mehrsprachigkeit nicht auch die Rolle der Herkunftssprachen neu gedacht und weiterentwickelt werden sollte.
Ist-Situation
Bald nach Beginn der „Einwanderung in die deutschen Schulen“ wurde der „Muttersprachliche Ergänzungsunterricht“ eingeführt, für den die Bildungsbehörden Schulräume und andere Hilfen zur Verfügung stellen und zum Teil auch finanzielle und fachliche Verantwortung tragen. Er kann als zusätzlicher freiwilliger Unterricht an Sekundarschulen wie an Primarschulen eingerichtet werden.
Seit den 1970er Jahren sehen die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz als „Hilfe bei der Eingliederung in weiterführende Schulen“ auch einen regulären Herkunftssprachlichen Unterricht vor: „Sofern es (. . .) im Interesse des ausländischen Schülers erforderlich ist, und es die organisatorischen, curricularen und personellen Voraussetzungen zulassen, kann in der weiterführenden Schule Unterricht in der Muttersprache anstelle einer Pflichtfremdsprache angeboten werden“ (Sekretariat der KMK 1979, Punkt 4.3). Diese Regelung wurde in mehreren Bundesländern erprobt, wobei sich bald zeigte, dass einer Konkurrenz zwischen dem Englischen und den Herkunftssprachen keine dauerhafte Lösung sein kann; akzeptabel ist das Angebot anstelle einer zweiten Fremdsprache.
Italienisch, Spanisch und Russisch sind seit langem als reguläre Schulfächer, vornehmlich als dritte Fremdsprache auf der gymnasialen Oberstufe, wählbar. Sie erweitern die fremdsprachlichen Bildungsmöglichkeiten aller Schülerinnen und Schüler, stellen aber für Schüler und Schülerinnen aus Migrantenfamilien auch eine Chance der Weiterführung ihrer Familiensprache durch schulischen Unterricht dar. Hinzugekommen ist das Türkische, für das die KMK Mitte der 1990er Jahre die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Abiturfach geschaffen hat (Sekretariat der KMK 1997).
Schließlich sind die in den 1990er Jahren entstandenen bilingualen Klassen und Schulen zu nennen, in denen eine Migrantensprache nicht nur als Fach angeboten wird, sondern für einen Teil des Unterrichts auch als Unterrichtssprache fungiert. Auch diese Klassen und Schulen sind Angebote an alle, stehen also Schülerinnen und Schülern ganz unterschiedlicher sprachbiographischer Voraussetzungen offen, stellen also eine Erweiterung des Fremdsprachenkanons und eine Form des Herkunftssprachenunterrichts dar.
Auf dem Weg zur Mehrsprachigkeit
Im Rahmen der sprachlichen Vielfalt in allen Lebensbereichen, die die Europäische Union insgesamt prägen soll, verfolgt die europäische Bildungspolitik das Ziel, dass alle Bürger und Bürgerinnen zusätzlich zu ihrer Muttersprache praktische Kenntnisse in mindestens zwei weiteren Sprachen haben sollen. In diese Zielsetzung sind auch die Herkunftssprachen der Migranten einbezogen. Schon 2003 heißt es im Aktionsplan zur Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt ausdrücklich: „Es ist wesentlich, dass Schulen und Ausbildungseinrichtungen im Sprachunterricht einen ganzheitlichen Ansatz verwenden, der geeignete Verbindungen herstellt zwischen dem Unterricht in der Muttersprache, den Fremdsprachen, der Unterrichtssprache und den Sprachen der Migrantengemeinschaften; entsprechende Strategien erleichtern es den Kindern, das volle Spektrum ihrer kommunikativen Fähigkeiten zu entwickeln.“ (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2003, Punkt II.1) Eben darum geht es im vorliegenden Beitrag – die Einbeziehung von Herkunftssprachen in Gesamtsprachenkonzepte der Sekundarschulen.
Für eine solche Einbeziehung sprechen mehrere Gründe:
(1) Über das Angebot von Deutsch und Englisch hinaus, das für alle Schülerinnen und Schüler gelten muss, sollten auch Sprachlernmöglichkeiten angeboten werden, die unterschiedlichen Motivationen und Ressourcen auf Schülerseite Rechnung tragen. Motivationsmangel für „die Sprache nach Englisch“ wird vielfach beklagt – das Interesse, am Unterricht der Herkunftssprache teilzunehmen, dürfte bei Schülern und Schülerinnen aus Migrantenfamilien, wenn dieser Unterricht in das reguläre Angebot eingebunden ist, deutlich über dem Interesse an anderen Sprachen liegen. Erst recht sind die sprachlichen und kulturellen Vorkenntnisse und die Gelegenheiten des informellen sprachlichen Lernens, das mit dem schulischen Sprachunterricht in förderliche Wechselbeziehung tritt, bei dieser Zielgruppe als weit überdurchschnittlich einzuschätzen.
(2) Unterricht in einer Sprache, der die Schülerinnen und Schüler auch außerhalb der Schule in realer Kommunikation begegnen, fordert Auseinandersetzungen mit Sprachvarietäten, mit Sprachkontakterscheinungen und mit Sprachkontrasten in besonders intensiver Weise heraus. Diese Stärkung der Sprachbewusstheit kommt auch dem sprachlichen Lernen in anderen Fächern zugute.
(3) Unterricht in einer auch biographisch bedeutsamen Sprache unterstützt die Reflexion der eigenen sprachlichen Identität und damit die Erfassung von Zusammenhängen zwischen Sprache, Kultur und Geschichte. Der Herkunftssprachenunterricht trägt dadurch zur interkulturellen Bildung des Einzelnen, aber auch zur interkulturellen Öffnung der Schule insgesamt bei.
Einwände und Hindernisse, Perspektiven
Gegen die Einbeziehung des Herkunftssprachenunterrichts werden bildungspolitische Bedenken vorgebracht. Von grundsätzlichem Gewicht sind die Zweifel an seiner Effektivität. Hopf (2005; 2011) vertritt die These, dass die für den Herkunftssprachenunterricht aufgewendete Zeit dem Deutschlernen verloren gehe und daher den Schulerfolg beeinträchtige. Eine solche abträgliche Rivalität der Sprachen ist aber nicht nachweisbar, empirische Untersuchungen zeigen, dass sich der Herkunftssprachenunterricht nicht negativ auf die Kenntnisse in der Sprache des Einwanderungslandes auswirkt (Söhn 2005).
Nicht bewiesen ist allerdings auch die früher häufig vertretene These, dass die Teilnahme an Herkunftssprachenunterricht generell eine Erhöhung der Leistungen in der Sprache des Einwanderungslandes bewirke. Dies hat vor allem Esser (2006, S. 371-398) anhand US-amerikanischer Untersuchungen demonstriert. Diese Untersuchungen kommen zu unterschiedlichen, z. T. widersprüchlichen Ergebnissen; die Vermutung liegt nahe, dass positive Auswirkungen nicht generell, sondern nur unter bestimmten Bedingungen zustande kommen, unter anderen nicht.
In Deutschland sind die Bedingungen gewiss nicht optimal, doch sind Besserungen im Gange: Die Zielsetzung der europäischen Sprachbildungspolitik trifft sich mit dem Rückgang der Hauptschulen, wodurch mehr Schülern als zuvor die Wahl einer zweiten Fremdsprache, und damit auch die Wahl einer Herkunftssprache anstelle einer zweiten Fremdsprache im Rahmen der regulären Stundenpläne möglich wird. Weitere zeitliche Möglichkeiten eröffnen sich an Schulen mit Ganztagsbetrieb. Lehrkräfte mit eigenem Migrationshintergrund, Angehörige der zweiten und dritten Migrantengeneration, sind schon jetzt in nicht wenigen Lehrerkollegien vertreten, ihr Anteil wird weiter zunehmen. Sie sind aufgrund ihrer deutschen Lehrerqualifikation und ihrer Sprachkenntnisse, ggf. abgesichert durch eine sprachdidaktische Zusatzqualifikation, in der Lage, einen voll integrierten Herkunftssprachenunterricht zu erteilen. Die intensive curriculare Entwicklungsarbeit schließlich, die in mehreren Bundesländern geleistet worden ist, hat sich erkennbar ausgezahlt. Es kann heute als allgemein anerkannt gelten, dass der Unterricht der Herkunftssprachen einen eigenständigen Beitrag zu den allgemeinen Bildungszielen der Schule leistet (Reich 2008, S.448f) und diese Verankerung in den allgemeinen Bildungszielen und in einem allgemeinen Sprachbildungskonzept schafft die fachlichen Voraussetzungen für seine Einbeziehung in die Zusammenarbeit an der Schule (vgl. Hecker 2012).
Kooperationen des Herkunftssprachenunterrichts mit anderen Fächern stellen sich nicht von alleine her. Wichtig ist, dass die Schulleitung entsprechende Bestrebungen anregt und unterstützt und ihre Realisierung organisatorisch ermöglicht. Hilfreich wäre die Institutionalisierung von übergreifenden „Sprachenkonferenzen“, in denen sich die Lehrkräfte über Standards und methodische Möglichkeiten des Sprachenunterrichts verständigen und sich über sprachdiagnostische Verfahren und individuelle Förderpläne austauschen. Sie könnten Bewertungsmaßstäbe erarbeiten, die Kompetenzzuwächse im Deutschen ebenso sichtbar machen wie in den Fremdsprachen und in der Herkunftssprache. Sie würden so der sprachlichen Bildung aller Schülerinnen und Schüler dienen.
Literatur
Esser, Hartmut: Migration, Sprache und Integration (= AKI-Forschungsbilanz 4), Berlin: Wissenschaftszentrum für Sozialforschung 2006.
Hecker, Burkhard: Der Rahmenplan „Herkunftssprachenunterricht“ – eine Chance für mehr Kooperation! in: SchulVerwaltung He/RP, Heft 7/2012.
Hopf, Diether: Schulleistungen mehrsprachiger Kinder: Zum Stand der Forschung, in: Hornberg, Sabine / Valtin, Renate (Hrsg.): Mehrsprachigkeit. Chance oder Hürde beim Schriftspracherwerb? Empirische Befunde und Beispiele guter Praxis, Berlin: Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben 2011, S. 12-31.
Hopf, Diether: Zweisprachigkeit und Schulleistung bei Migrantenkindern, in: Zeitschrift für Pädagogik, Heft 2 / 2005, S. 236-251.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuß und den Ausschuß der Regionen – Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt: Aktionsplan 2004-2006, 2003 (cele-txt – 52003DC0449).
Reich, Hans H.: Herkunftssprachenunterricht, in: Ahrenholz, Bernt / Oomen-Welke, Ingelore (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache, Baltmannsweiler: Schneider 2008, S. 445-456.
Sekretariat der Kultusministerkonferenz (Hrsg.): Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung. Türkisch. Beschluß vom 13.10.1995, Neuwied 1997.
Sekretariat der Kultusministerkonferenz (Hrsg.): Neufassung der Vereinbarung „Unterricht für Kinder ausländischer Arbeitnehmer“, Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 8.4.1976 i. d. F. vom 26.10.1979.
Söhn, Janina: Zweisprachiger Schulunterricht für Migrantenkinder. Ergebnisse der Evaluationsforschung zu seinen Auswirkungen auf Zweitspracherwerb und Schulerfolg (= AKI-Forschungsbilanz 2), Berlin: Wissenschaftszentrum für Sozialforschung 2005.
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