Die Gaste
ÝKÝ AYLIK TÜRKÇE GAZETE
ISSN 2194-2668
DÝL VE EÐÝTÝMÝ DESTEKLEMEK ÝÇÝN ÝNÝSÝYATÝF
(Initiative zur Förderung von Sprache und Bildung e.V.)


  • ÖNCEKÝ YAZI
  • SONRAKÝ YAZI
  • Ausgabe 29 / November-Dezember 2013



    Ausgabe 29 / November-Dezember  2013

     
     

    Die Gaste

    ÝKÝ AYLIK TÜRKÇE GAZETE

    ISSN 2194-2668

    DÝL VE EÐÝTÝMÝ DESTEKLEMEK ÝÇÝN
    ÝNÝSÝYATÝF

    Yayýn Sorumlusu (ViSdP):
    Engin Kunter


    diegaste@yahoo.com

    Gibt es Sprachen erster
    und zweiter Klasse?
    [Birinci ve Ýkinci Sýnýf Diller Var mý?]


    Prof. Dr. Elin FREDSTED
    (Flensburg Üniversitesi Danca Dili ve Edebiyatý Enstitüsü Baþkaný)

    In der 28. Ausgabe dieser Zeitschrift schloss der Verfasser seinen Beitrag über das typisch Deutsche mit einem kurzen Blick auf die deutsche Tüchtigkeitssethik, die in vielen Bereichen des ökonomischen und kulturellen Lebens zum Ausdruck kommt. Da es sich hier um etwas handelt, worin sich die Deutschen vor allem von den Briten und den Amerikanern auffällig unterscheiden, soll den Ursprüngen und Gründen dieser nationaltypischen Eigenheit noch einmal ausführlicher nachgegangen werden.

    Deutsche zählen den Fleiß zu ihren nationalen Tugenden, und viele Ausländer stimmen ihnen zu, obleich die Statistik dem entgegensteht; denn der deutsche Arbeitnehmer rangiert mit seinen Jahresarbeitsstunden weit hinter Japanern, Amerikanern und den meisten anderen Nationen. Noch typischer als der Fleiß ist für die Deutschen aber etwas, das auf den ersten Blick das Gleiche zu sein scheint, doch eine andere emotionale Bedeutung hat, nämlich Tüchtigkeit. Das Wort 'tüchtig' geht wie das Wort 'Tugend' auf das Verb 'taugen' zurück. Insofern bedeutet 'Tüchtigkeit' eigentlich Tugend schlechthin. Während als fleißig schon der gilt, der sich einer Aufgabe mit Eifer widmet, bedeutet tüchtig, dass man sich bis an die Grenze des Möglichen anstrengt. Unter einem tüchtigen Arbeiter stellt man sich jemanden vor, der die Ärmel hochkrempelt und dem der Schweiß auf der Stirn steht, was als Ehrenzeichen gilt, auf das man stolz ist. Dass dies nicht in allen Nationen so empfunden wird, wurde an früherer Stelle bereits mit einem Blick auf England angedeutet. Auf der Insel hatte sich im 18. Jahrhundert das Ideal des Gentleman ausgebildet, das noch heute die Mentalität der Briten, wenn nicht bestimmt, so doch latent prägt. Von einem Gentleman erwartet man nicht, dass er bestimmte Leistungen vollbringt, sondern dass er in allen Lebenslagen Haltung bewahrt. ein Gentleman darf sich nicht anmerken lassen, dass ihm etwas unter die Haut geht, und er darf nicht zeigen, dass ihn etwas anstrengt. Der Schweiß auf der Stirn ist für ihn kein Ehrenzeichen, sondern eher ein Makel. Diese Haltungsethik wurde im 19. Jahrhundert in den Public Schools, den Kaderschmieden der Nation, den Kindern der Oberschicht vermittelt, die danach als Herrschaftselite in die Kolonien gingen und dort den kolonisierten V"ökern Respekt abnötigten, z. B. dadurch, dass sie sich bei 40 Grad im Schatten und hundert Prozent Luftfeuchtigkeit trotzdem zum Dinner Abendgarderobe anlegten. Die britische Alltagskultur lässt noch heute Reste dieser Haltung erkennen, wenngleich inzwischen auch hier die Hemdsärmeligkeit auf dem Vormarsch ist.

    Die Deutschen, zumal die liberalen Protestanten im Norden, haben für England seit dem 18. Jahrhundert viel Bewunderung und Sympathie empfunden. Doch vom Ideal des Gentleman übernahmen sie nur den sportlichen Code des Fairplay und die Herrenmode. Im übrigen war das deutsche Ideal der "gebildete Mensch". Unter Bildung verstand und versteht man noch heute in erster Linie eine Beschlagenheit auf vielen geistigen und künstlerischen Gebieten. Eine kluge Definition sagt zwar, dass Bildung das sei, was übrigbleibt, wenn man alles Wissen vergessen hat, doch in der Realität gilt als Ausweis von Bildung vor allem umfangreiches Wissen, das die "Gebildeten" oft ungeniert zur Schau stellen. Das entspricht ihrer Tüchtigkeitsethik, während Engländer es als Angeberei empfinden. Wissenserwerb ist mit Anstrengung verbunden. Da geistige Anstrengung keinen Schweiß auf die Stirn treibt, muss man sie auf andere Weise sichtbar machen, z. B. durch eine anspruchsvolle, schwerverständliche Sprache. Das Turnen am stilistischen Hochreck ist seit dem 19. Jahrhundert eine Spezialität der deutschen Kultur.

    Jenseits des Ärmelkanals ist es genau umgekehrt. Dort gilt das ungeschriebene Gesetz, dass man sich geistige Anstrengung nicht anmerken lassen darf. Adorno, ein Großmeister der Schwerverständlichkeit, reagierte einmal auf Kritik an seinem Gebrauch von Fremdwörtern mit einem Aufsatz, wo er schreibt: "Versuche der Formulierung, die, um die gemeinte Sache genau zu treffen, gegen das übliche Sprachgeplätscher schwimmen und gar sich bemühen, verzweigtere gedankliche Zusammenhänge getreu im Gefüge der Syntax aufzufangen, erregen durch die Anstrengung, die sie zumuten, Wut." Wenn dieser Satz richtig wäre, müssten sich englische Autoren aus Angst vor den Wutbürgern in eine einfache Sprache geflüchtet haben, die in Adornos Augen "Sprachgeplätscher" wäre. Tatsächlich ist es aber die englische Haltungsethik, die es den Autoren verbietet, ihre geistige Anstrengung zur Schau zu stellen, weshalb gerade die Koryphäen eines Fachgebiets unter dem Zwang stehen, so klar und einfach wie möglich zu schreiben, während man einem Doktoranden stilistisches Imponiergehabe noch durchgehen lässt. In Deutschland hingegen gilt Schwerverständlichkeit als Ausweis geistiger Tüchtigkeit, wobei allerdings hinzugefügt werden muss, dass inzwischen der weltweite akademische Konkurrenzkampf so hart ist, dass überall, und damit auch in England, angehende Wissenschaftler gezwungen sind, ihre geistigen Muskeln auch stilistisch spielen zu lassen. Das gilt vor allem für Geistes- und Kulturwissenschaftler, an deren Seriosität oft gezweifelt wird.

    Der hier aufgezeigte Unterschied zwischen Tüchtigkeits- und Haltungsethik beruht nicht auf unterschiedlichen deutschen und englischen Genen, sondern hat sich auf Grund von historischen Gegebenheit ausgebildet. Zu Shakespeares Zeiten, in der Epoche des so genannten Manierismus, turnten auch die englischen Geistesgrößen, mit Ausnahme von Francis Bacon, am stilistischen Hochreck. Erst im 18. Jahrhundert bildete sich hier das Ideal eines scheinbar mühelosen einfachen Stils heraus, zusammen mit jener englischen Spezialität, die auch im Deutschen einen englischen Namen hat, dem Understatement. Es war das Jahrhundert, in dem England sich den Spitzenplatz in Europa eroberte. Wer das Rennen anführt, braucht keine üchtigkeitsethik, um sich zu noch mehr Leistung anzuspornen. Sich selber übertreffen kann der Spitzenreiter nur dadurch, dass er sich nicht anmerken lässt, wie anstrengend es ist, an der Spitze zu sein. Ebendas führte zur Ausbildung des englischen Verhaltungscodes, der seinen reinsten stilistischen Ausdruck in den Romanen Jane Austens, der Großmeisterin des Understatements, fand.

    Ganz anders verlief die Entwicklung in Deutschland. Nach der kurzen Aufholjagd im friederizianischen Preußen sahen sich die Deutschen nach den napoleonischen Kriegen, wie schon anderthalb Jahrhunderte zuvor nach dem Dreißigjährigen Krieg, wieder am Fuße der Leiter, auf der sie zur Spitze aufsteigen wollten. Das erforderte eine Ethik, die äußerste Anstrengung zu einem Wert an sich erklärt, und zwar auf allen Gebieten, in der Ökonomie ebenso wie auf den Feldern des Geistes und der Kunst. So bildete sich das heraus, was oben beschrieben wurde. Und es kam eine weitere deutsche Spezialität hinzu, nämlich die Ironie des Overstatement, die keiner so genial beherrschte wie Thomas Mann.

    Es liegt nahe und scheint geboten, einen Blick auf die USA zu werfen. Herrscht dort nicht die gleiche Ethik wie in Deutschland? Bis zu einem gewissen Grad schon, doch mit einer Abweichung. Während die Deutschen bereits die Anstrengung anerkennen und den Schweiß auf der Stirn als den Lorbeerkranz des Werktätigen empfinden, erwarten Amerikaner noch etwas mehr, nämlich Erfolg. Zwar billigen sie jedem Gescheiterten eine unbegrenzte Anzahl weiterer Versuche zu, doch am Ende muss die Anstrengung von Erfolg gekrönt sein. In einem Buch mit dem sinngemäßen Titel "Was Eltern über Schule wissen sollten" nennt der Amerikaner Dr. Bill Elstran den Präsidenten Abraham Lincoln als Beispiel dafür, wie jemand innerhalb von 29 Jahren zehn schwere Niederlagen erlitt und danach der größte Präsident der USA wurde.

    Der optimistische Glaube der Amerikaner, selbst nach zahlreichen Niederlagen am Ende Erfolg zu haben, wird aus der ältesten Quelle ihrer nationalen Mentalität gespeist, aus dem Puritanismus. Die Puritaner, die mit der Mayflower nach Amerika kamen, glaubten daran, dass Gott bereits zu Beginn der Schöpfung vorher bestimmt habe, wer erlöst und wer verdammt sein sollte. Dieser Gott war in ihren Augen unbestechlich. Er ließ sich weder durch Opfer noch durch gute Taten von seinem prädestinierten Beschluss abbringen. Das einzige, was Menschen tun konnten, war das Suchen nach Erwältheitsbeweisen in ihrem diesseitigen Leben. Als solche sahen sie irdischen Erfolge an; denn weshalb sollte Gott einem Menschen Erfolg gewähren, den er für die Hölle bestimmt hatte?

    Dies ist der Motor der amerikanischen Erfolgsethik. Es ist zugleich die schlüssigste Erklärung für die Staatsfeindlichkeit der Amerikaner und für ihren Widerstand gegen Obamas Gesundheitsreform. Wenn sich alle Bürger im Wettbewerb um irdische Erwähltheitsbeweise befinden, darf der Staat nur Schiedsrichter sein, er darf nicht selber eingreifen und vermeintlich schwache Wettbewerber begünstigen. Amerikaner finden es völlig in Ordnung, dass die öffentliche Hand für Kinder, die in den Wettbewerb noch gar nicht eingetreten sind, ein kostenloses, gut ausgebautes Schulsystem finanziert. Sie akzeptieren auch, dass der Staat allen Bürgern über 65 Jahren, die aus dem Wettbewerb ausgeschieden sind, mit Medicare eine gute Krankenversorgung anbietet. Doch würde der Staat auch noch Teilen der Altersgruppen dazwischen die Daseinsvorsorge abnehmen, wäre das eine Verfälschung des Wettbewerbs. Irdischer Erfolg wäre dann kein Erwähltheitsbeweis mehr, sondern die Folge staatlicher Fürsorge. Diese Denkweise ist der ideologische Kern der Tea Party, die in primitiver Form an das alte puritanische Ethos anknüpft.

    Ganz anders denken und fühlen die Deutschen. Sie erwarten vom Staat, dass er als gerechter Vater die Anstrengung seiner Bürger anerkennt und honoriert. Das bedeutet freilich auch, dass das Ausbleiben der Anerkennung mit Enttäuschung und Groll quittiert wird. Hier liegt eine der Wurzeln für das, was als German angst zu einem geflügelten Wort geworden ist. Amerikaner kennen solche Angst nicht; denn der unbestechliche Gott, von dem sie sich erwählt fühlen, kann sie im Diesseits nicht enttäuschen, und der Staat kann es erst recht nicht, da sie ihn für ein notwendiges Übel halten. Die Deutschen aber, die vom Staat gerechtes Handeln erwarten, werden von ihm immer wieder enttäuscht und leben deshalb in der permanenten Erwartung von Ungerechtigkeit. Das ist übrigens auch eine Ursache dafür, dass der Neid in der deutschen Gesellschaft viel stärker ausgeprägt ist als in der amerikanischen. Während die Deutschen auf staatliches Handeln fast immer mit Enttäuschung reagieren und sich im Konkurrenzkampf oft übervorteilt fühlen, sind sie mit sich selber meist schon dann im Reinen, wenn sie ihr Bestes gegeben haben, auch wenn der Erfolg ausbleibt. "Es irrt der Mensch, solang er strebt!" heißt es am Anfang von Goethes Faust; und am Endes des Zweiten Teils der Tragödie folgt der andere, ebenso bekannte Satz: "Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen". Obwohl Goethe in den Augen strenggläubiger Christen ein Heide war, konnten sich dennoch unter dem Dach seines Credos Katholiken mit lutherischen Protestanten vereinen; denn beide glaubten, dass sie Gott gnädig stimmen könnten: die einen durch gute Werke, die anderen durch guten Willen. Insofern darf Goethe als ein Gewährsmann der deutschen Tüchtigkeitsethik gelten. Das Wort 'tüchtig' stand bei ihm hoch im Kurs.

    Weiteres zu diesem Themenkreis findet sich in drei Büchern des Verfassers:
        Was ist deutsch? Wie die Deutschen wurden was sie sind.
        Typisch englisch. Wie die Briten wurden, was sie sind.
        Typisch amerikanisch. Wie die Amerikaner, wurden was sie sind. (Alle drei im C. H. Beck Verlag, München)