Nachhilfe ist die Antwort auf zahlreiche Mängel unseres hochselektiven
Schulsystems. Benachteiligt werden Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen,
deren Eltern sich Nachhilfe nicht leisten können.
Im bundesdeutschen Durchschnitt, so das Ergebnis einer Studie des Deutschen
Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), nimmt rund jeder vierte Penäler in
Deutschland im Verlauf seiner Schulzeit mindestens einmal privat bezahlten
Nachhilfeunterricht. Dabei wird Nachhilfe in den alten Bundesländern mit 31 Prozent
doppelt so häufig nachgefragt wie in den neuen mit 15 Prozent. Das größte
Aufkommen im gesamtdeutschen Durchschnitt wird mit 30 Prozent an Gymnasien
verzeichnet. Für den Realschulbereich wurden 29 Prozent ermittelt. Unter
HauptschülerInnen, die in der Regel aus sozial schwächeren Schichten stammen, ist
Nachhilfeunterricht mit 14 Prozent am geringsten verbreitet. (Schneider 2005) Nach
Rudolph (2002) sind die Hauptabnehmer von Nachhilfeunterricht zu über einem
Drittel GymnasiastInnen und zu knapp 30 Prozent RealschülerInnen. Nur 7 Prozent
besuchen eine Hauptschule. In der Grundschule steigt das Nachhilfeaufkommen
analog zur Klassenstufe. In der 4. Klasse erhält bereits rund jeder fünfte Schüler
Zusatzunterricht, um den Sprung auf die Realschule oder besser noch das
Gymnasium zu schaffen.
Hochrechnungen zufolge lässt sich die deutsche Elternschaft den Extraunterricht für
ihre Sprösslinge rund 2 Milliarden Euro jährlich kosten. Dass dadurch die Selektivität
des deutschen Schulsystems nach sozialer Schichtzugehörigkeit noch verstärkt wird,
liegt auf der Hand. Denn monatliche Kosten zwischen 50 Euro für private und 150
Euro für institutionelle Nachhilfe (Rudolph 2002) können sich nur Elternhäuser
leisten, die über die nötigen finanziellen Spielräume verfügen.
Der Nachhilfemarkt kommerzialisiert sich
Während in älteren Studien zum Thema hauptsächlich SchülerInnen höherer
Klassen, Studierende und (arbeitslose) LehrerInnen als Nachhilfeanbieter ermittelt
wurden, haben sich in den letzten 20 bis 30 Jahren zunehmend gewinnorientierte
Nachhilfeorganisationen etabliert, die aus Mängeln im Schulsystem, Leistungsdruck
und Zukunftsängsten der Eltern Kapital schlagen. Geworben wird mit allem, was das
öffentliche Schulsystem nur unzureichend leistet: individuelle Betreuung, qualifizierte
Lehrkräfte, die sich regelmäßig weiterbilden, Kooperation mit Eltern und Schulen,
Vermittlung von Lerntechniken, Schließen von Wissenslücken, „Selbstbewusstsein
durch gute Noten“ und sogar „Spaß am Lernen“.
Die beiden 1974 gegründeten Institutsketten „Studienkreis“ (ca. 80.000 Schüler
jährlich, 80 Mio. € Umsatz) und „Schülerhilfe“ (ca. 60.000 Schüler jährlich, 60 Mio. €
Umsatz) gehören dabei zu den Marktführern in der Bundesrepublik mit einem
gemeinsamen geschätzten Marktanteil von 15 bis 20 Prozent. Beide verfügen über
jeweils rund 1000 Filialen im Bundesgebiet, stellen eigenes Lernmaterial her, locken
mit Gratis- oder Schnupperangeboten und bieten Ferienkurse sowie
Hochbegabtenförderung an. Wettbewerbe, Preisverleihungen und werbewirksame
Aktionen, wie Bücherspenden an öffentliche Schulen, um „die eng budgetierten
Schulen zu unterstützen“, runden das Bild ab.
Neben den Branchenriesen tummeln sich noch zahlreiche kleine Anbieter auf dem
Nachhilfemarkt. Die Anzahl ist allerdings nicht überschaubar, denn prinzipiell kann
jeder selbst ernannte Hobbypädagoge Gruppen- oder Einzelnachhilfe anbieten.
Margitta Rudolph ermittelte in ihrer Untersuchung einen Gesamtanteil von 52 Prozent
an NachhilfeschülerInnen, die Nachhilfe von einem institutionellen Anbieter erhalten.
Bezahlte Nachhilfe von Privat rangiert in jeder der von ihr untersuchten
Klassenstufen (5 bis 10) auf Platz zwei, Verwandte und Freunde sowie schulinterner
Zusatzunterricht fielen im Vergleich kaum ins Gewicht.
Qualität von Nachhilfeunterricht
Ob privat oder institutionell, inhaltlich wird Nachhilfeunterricht hauptsächlich von den
Hausaufgaben, Stoffwiederholungen und Vorbereitungen auf Klassenarbeiten
bestimmt. Lern- und Arbeitstechniken macht entgegen den Werbeversprechungen
nur einen geringen Anteil aus. So bezeichneten in der Studie von Margitta Rudolph
100 Prozent der interviewten institutionellen NachhilfelehrerInnen ihren Unterricht als
"Reparaturprozess", statt als "Lernzuwachs durch Erwerb von Lern- und
Arbeitstechniken". Das birgt für viele NachhilfeschülerInnen die Gefahr auf
Nachhilfeunterricht angewiesen zu bleiben, um in der Schule bestehen zu können.
Ein Indiz dafür ist die hohe Zahl an Langzeitnachhilfeverhältnissen, denn nach
jüngsten Ergebnissen zu urteilen ist Nachhilfeunterricht für viele SchülerInnen
mittlerweile zu einer Dauereinrichtung geworden.
Trotzdem schneidet Nachhilfe bei der Bewertung durch die Abnehmer insgesamt gut
ab, denn alles in allem hilft sie die Schulnoten zu steigern, wobei privater und
schulintegrierter Zusatzunterricht positiver eingeschätzt wird als institutioneller.
Nachhilfefächer und Nachhilfegründe
Am gefragtesten sind die Kernfächer Mathematik, Englisch und Deutsch, wobei eine
Versetzungsgefährdung in den meisten Studien erst an zweiter oder dritter Stelle
rangiert. In erster Linie wird Nachhilfe zur Verbesserung und Optimierung der
Zensuren in Anspruch genommen und zwar besonders in Jahrgangsstufen, in denen
Schul- und Bildungslaufbahnentscheidungen getroffen werden oder ein
Ausbildungsplatz gesucht wird.
Dabei begründet ein Viertel der Eltern die nicht zufriedenstellenden Noten ihrer
Kinder mit didaktischen Defiziten einiger LehrerInnen, gefolgt von zu schnellem
Voranschreiten im Unterrichtsstoff, zu wenig Übungen und Wiederholungen im
Unterricht, den Hausaufgaben sowie Unterrichtsausfällen. Darüber hinaus
bekommen zwischen 25 und 30 Prozent der NachhilfeschülerInnen privaten
Zusatzunterricht um Leistungseinbrüchen vorzubeugen, obwohl weder eine
Gefährdung der Versetzung noch des Schulabschlusses vorliegt.
Außerschulische Ursachen für Nachhilfe wie Krankheit, familiäre Probleme, ein
Umzug oder Schulwechsel spielen dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Es sind
Mängel in Schule und Unterricht, die Angst vor sozialer Benachteiligung und
verwehrten Karrierechancen durch schlechte Schulnoten, die zu außerschulischem
Zusatzunterricht greifen lassen, denn Bestnoten spielen eine entscheidende Rolle im
dreigliedrigen Schulsystem, bei der Suche nach einem Ausbildungs- oder
Studienplatz und dem späteren Einstieg in den Arbeitsmarkt.
Ist Nachhilfe verfassungskonform?
Angesichts der zunehmenden Expansion der nach marktstrategischen
Gesichtspunkten betriebenen Nachhilfeinstitute wies der Erziehungswissenschaftler
Michael Weegen bereits Mitte der achtziger Jahre darauf hin, dass zumindest die
institutionalisierte Nachhilfe, gemessen an den Ansprüchen und Präambeln unseres
Gesellschaftssystems, nicht bestehen dürfe: „Denn die Wahrnehmung öffentlicher
Verantwortung für das Bildungswesen bedeutet auch, daß die institutionalisierte
Sozialisation – und diese wird auch in allgemeinbildenden Ergänzungsschulen und
Nachhilfeschulen jeglicher Art betrieben – in den Bereich öffentlicher Kontrolle
einzubeziehen ist.“ (Weegen 1986) Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus
Hurrelmann räumte zwar ein, dass in einer demokratischen Gesellschaft die
Etablierung kommerzieller Nachhilfeschulen nicht verhindert werden kann, forderte
aber eine strukturpolitische Diskussion darüber, welcher Stellenwert diesen
zukommen soll und betont die Wichtigkeit „parlamentarisch kontrollierbarer Regeln
und Vorgaben“ (Hurrelmann 1996) Passiert ist bisher allerdings nichts.
Die Verantwortlichen sind gefragt
Jenen, die aus der Bildungsmisere, dem Leistungsdruck und den Zukunftsängsten
der Eltern Kapital schlagen ist allerdings am wenigsten ein Vorwurf zu machen. Sie
bedienen eine Nachfrage, die unser hochselektives Schulsystem erst geschaffen hat.
Gefragt sind jene, die dafür verantwortlich zeichnen und sich aus ideologischen
Gründen der längst überfälligen Reform des dreigliedrigen Schulsystems verweigern.
Denn gerade das Ansteigen des Nachhilfeaufkommens vor Entscheidungen, die die
Schul- und Bildungslaufbahn betreffen, weisen darauf hin, dass Nachhilfeunterricht
weniger ein Mittel zur Behebung von Leistungsschwächen ist, deren Ursachen im
außerschulischen Bereich zu finden sind, sondern vielmehr eine Reaktion auf die
Selektivität des dreigliedrigen Schulsystems.
Kommerzielle Nachhilfeinstitute sind aber auch eine Antwort auf Mängel und
Strukturen des Halbtagsschulsystems, wie Lehrermangel, zu große Klassen,
Unterrichtsausfall, zu wenig Gelder, die nur eine ungenügende individuelle Förderund
Betreuungsmöglichkeit sowie Leistungsentfaltung zulassen. Denn sowohl Einzelals
auch Gruppennachhilfe vermag Noten zu steigern, während Schule es nur
bedingt zu schaffen scheint, Lehr-/Lernprozesse so zu gestalten, dass die
SchülerInnen die geforderten Leistungen ohne außerschulischen Zusatzunterricht
überhaupt erbringen können.
Besonders schwer wiegt, dass SchülerInnen aus sozial schwachen Verhältnissen
aufgrund der begrenzten finanziellen Möglichkeiten ihrer Eltern nicht in der Lage
sind, zusätzliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Denn nach den Daten des DIW
bekommen mit 36 Prozent doppelt so viele Kinder aus Haushalten im oberen
Einkommensviertel bezahlte Nachhilfe wie Kinder aus Haushalten des unteren
Einkommensviertel (17 Prozent). Ihnen bleiben also zahlreiche Bildungs- und damit
auch Lebenschancen verwehrt, die sich SchülerInnen aus sozial besser gestellten
Verhältnissen mit Nachhilfeunterricht erkaufen (lassen) können.
zitierte Literatur
Hurrelmann, K.: Das deutsche Schulwesen privatisiert sich. In: Pädagogik. 51, 1996,
H. 9, S. 35-39
Rudolph, M. (2002): Nachhilfe – gekaufte Bildung? Empirische Untersuchung zur
Kritik der außerschulischen Lernbegleitung. Eine Erhebung bei Eltern, LehrerInnen
und Nachhilfeinstituten. Bad Heilbrunn: Klinkhardt
Schneider, Th.: Nachhilfe als Strategie zur Verwirklichung von Bildungszielen. Eine
empirische Untersuchung mit Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP). In:
Z.f.Päd. 51, 2005, H. 3, S. 363-379
Weegen, M. (1986): Das Geschäft mit der organisierten Nachhilfe. In: Jahrbuch der
Schulentwicklung Bd. 4 1986. Weinheim und Basel: Beltz
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