Die Debatte zur interkulturellen Öffnung von Schule, Unterricht und Lehrerkollegien wird von Begriffen wie Multikulturalismus, Integration, Inklusion oder Diversity getragen. Menschen mit Migrationshintergrund können nicht mehr nach dem Muster der „Ausländerpädagogik“ der 60er Jahre oder nach Prinzipien des „Multikulturalismus“ der 80er und 90er Jahre nach Herkunft, Ethnizität oder Religion gruppiert werden. Auf Basis dieser Paradigmen kann gleichberechtigte Teilhabe eben dieser Minderheiten wohl kaum gefordert werden. Unzählige Schulen haben dies schon vor vielen Jahren verstanden. Somit kann die pädagogische Antwort nur eine interkulturell orientierte Schule sein, in der der Umgang mit Verschiedenheit in jeder Hinsicht ‘normal’ ist - nicht nur entlang ethnischer Linien. Übersetzt in die Herausforderungen schulischen Alltags bedeutet dies das Aufspüren von Diskriminierungen und Benachteiligungen im eigenen Haus sowie die Entwicklung von Konzepten zu ihrer Überwindung, die Öffnung der Schule nach innen und außen, die Überprüfung der Lerninhalte auf Ethnozentrismus und Rassismus, um nur einige Aspekte zu nennen.
Die Öffnung von Schule erleichtert die Vermittlung und Reflexion von Erfahrungen als Teil der Ausbildung interkultureller Kompetenz, verstanden als die Fähigkeit, angemessen und erfolgreich in einer fremdkulturellen Umgebung oder mit Angehörigen einer fremden Kultur zu kommunizieren. (Hinz-Rommel, 1994). Interaktionsfreudigkeit, Selbstsicherheit, eigenkulturelles Bewusstsein, Stresstoleranz, Empathie und Sprachkenntnis sowie die Fähigkeit, Widersprüchlichkeiten und Konflikte ertragen zu können, können gerade in offenen Situationen wie im Rahmen von Schulexkursionen und interkulturellen Projekten wirksam trainiert werden.
In den Klassenzimmern ist sprachliche und kulturelle Vielfalt Alltag und auch in den Lehrerzimmern gehören inzwischen immer mehr Lehrkräfte mit Migrationshintergrund zum Kollegium. Allerdings lässt das extrem selektive deutsche Schulsystem SchülerInnen mit ungünstigen Startbedingungen keine Chance. Meist sind Leistungsbewertung und Auslese zentrale Aufgabe der LehrerInnen. Diese Selektivität begünstigt eine „Entsorgungsmentalität“. Die Konzentration der Migrantenjugendlichen in der Hauptschule bietet diesen (a) wenig berufliche Perspektiven und konterkariert (b) interkulturelles Lernen.
In mehreren qualitativen Studien wurden in Äußerungen von Lehrpersonen entdeckt:
• die Fixierung auf fremde „Mentalitäten“ oder „Sitten“
• pauschaler Fundamentalismus-Verdacht bei Muslimen
• Differenzblindheit
• Infantilisierung, Paternalismus, Mitleid
• die barsche Forderung nach Assimilation
• folgenlose bzw. ausgrenzende Toleranz („andere Sitten“)
• die Tendenz zur zivilisatorischen Mission
• kein Infragestellen eigener Bewertungsmuster
• kein Eingeständnis des Befremdens
Nach den Studien von Heitmeyer u. a. ist Islamophobie besonders auch unter Mittelschichtangehörigen verbreitet. LehrerInnen sind nach einer eigenen Befragung (Wagner u.a. 2001) bei Äußerungen von Ausländerfeindlichkeit in der Klasse mehrheitlich stark alarmiert. Die institutionelle Diskriminierung im eigenen Handlungsfeld Schule wird hingegen kaum wahrgenommen. Nur 42,2 % der Befragten wollten eine Benachteiligung im Bildungsbereich sehen (Auernheimer u.a. 1998).
Die Prinzipien interkultureller Arbeit sind Gleichheit und Anerkennung. Unter Gleichheit wird die Förderung der Schwachen unter Mithilfe der Starken, Überprüfung der Auslesemechanismen und das Bewusstsein für Diskriminierungen wecken, verstanden. Unter Anerkennung versteht man allgemein, dass man die Erfahrungswelt der Schüler und subjektiv bedeutsame Symbole und kulturelle Praktiken anerkennt.
Anerkennung ist auch eine „paradoxe Handlungsorientierung“ oder –anforderung (Paul Mecheril 2005). Denn sie gründet auf der Annahme, dass das Individuum zur Selbstverwirklichung seiner kulturellen Ressourcen bedarf. Zugleich birgt das Bemühen um Anerkennung die Gefahr von Zuschreibungen, die seine Entfaltung behindern. Doris Edelmann (2007) hat in einer Studie an Züricher Grundschulen sechs verschiedene Umgangsweisen mit Heterogenität bei Lehrpersonen identifiziert. Zwei davon kennzeichnet sie als kooperativ. Die LehrerInnen sind in ein innovatives Team eingebunden. Dies ist die beste Voraussetzung für die Arbeit mit mehrsprachigen, multikulturellen Klassen.
Seit Dezember 2011 wird eine Veranstaltungsreihe für Lehrkräfte des Herkunftssprachenunterrichts im Primar- und Sekundarbereich in Bielefeld und ganz Nordrhein-Westfalen angeboten, wo u.a. auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Mehrsprachigkeit und deren Umsetzung in der Praxis näher eingegangen wird. Im Weiteren wurde ein „Netzwerk Lehramtsstudierende mit Zuwanderungsgeschichte“ gegründet. Hier werden SchülerInnen mit Zuwanderungsbiographie für das Lehramtsstudium gewonnen und Lehramtsstudierende mit Zuwanderungsgeschichte während ihrer akademischen Ausbildungszeit und darüber hinaus (Übergang vom Master ins Referendariat) begleitet und beraten. Das Netzwerk der Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte des Landes Nordrhein-Westfalen schaut bewusst auf die Entwicklungschancen von Menschen nicht-deutscher Herkunft. Darüber hinaus wurde im September 2011 ein Stammtisch für Lehrkräfte mit und ohne Zuwanderungsgeschichte eingerichtet. Bei den alle zwei Monate stattfindenden Treffen werden Themen wie Schulsysteme in verschiedenen Ländern, Umgang mit Einwanderern in verschiedenen Ländern, Inklusion versus Integration, etc diskutiert. Ansprechpartnerin für die oben aufgeführten Veranstaltungsreihen für Lehrkräfte des Herkunftssprachenunterrichts, den Stammtisch und das Netzwerk, etc. ist Frau Nilgün Isfendiyar, die Leiterin des Amts für Integration und interkulturelle Angelegenheiten - RAA Bielefeld.
Die Schule als lebendiger, gestalteter Lern- und Lebensraum stellt somit den zentralen Ort für junge Menschen dar, an dem die notwendigen Werte und Schlüsselkompetenzen zur aktiven Partizipation in einer sich weiter entwickelnden multikulturellen Gesellschaft sowie der durch Globalisierung und Internationalisierung rasant zusammen wachsenden Welt vermittelt werden können. Das Ziel der Gestaltung einer humanen, demokratischen Gesellschaft beginnt in der Schule - wenn die an den Bildungsprozessen Beteiligten diese Chance erkennen und wahrnehmen.
Es reicht allerdings nicht, dass die sogenannte Mehrheitsgesellschaft den Öffnungsprozess in die Wege leitet, sondern die Migrantenselbstorganisationen (MiSOS) nehmen hier eine wichtige Rolle ein, u.a. nämlich sich in bildungspolitische Öffentlichkeitsarbeit ein zu mischen (Partizipation).
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