In der öffentlichen Debatte, die durch die ersten PISA-Ergebnisse und nachfolgende Vergleichsuntersuchungen angestoßen wurde, haben Sprachstandsdiagnose und Sprachförderung eine besondere Bedeutung erlangt. Im allgemeinen wird argumentiert, dass Sprachförderung nur auf der Grundlage von Ergebnissen von Sprachstandsdiagnoseverfahren sinnvoll sei, weil erst auf einer solchen Grundlage eine angemessene Planung und Durchführung von Fördermaßnahmen möglicht würde. Wir wollen diesen Zusammenhang nicht grundsätzlich in Frage stellen, sind aber aufgrund unserer Beobachtungen und Datenanalysen zu der Überzeugung gelangt, dass die gegenwärtig auf dem Markt befindlichen Verfahren Unzulänglichkeiten aufweisen und dass weitere Aspekte berücksichtigt werden müssten, wenn Entwicklungen in der Zweitsprache Deutsch angemessen beurteilt und unterstützt werden sollen.
Bereits Wygotski hatte darauf hingewiesen, dass Tests i. d. R. nur das erfassen, was ein Lernender in der Vergangenheit an Erfahrungen und Wissen sammeln konnte. Nicht erfasst werde könne so sein Entwicklungspotenzial (die Zone er nächsten Entwicklung). Daneben sollten aber auch Leistungsbereitschaft und Motivation von Lernenden erfasst werden. Und da unsere Datenanalysen gezeigt haben, dass Lernende ihre Erwerbsprozesse sehr viel stärker selbst steuern, als bisher angenommen wurde (vgl. Apeltauer 2010), sollten künftig auch Selbststeuerungsversuche von Lernenden genauer registriert und unterstützt werden. Denn Lernende versuchen sich ihre Umwelt und die damit verbundene(n) Sprache(n) eigenständig zu erschließen. Sie tun dies mit Hilfe von Erwachsenen und anderen Kindern, erforderlichen Falles aber auch ohne deren Hilfen. Sie folgen dabei ihrem eigenen (inneren) Curriculum (vgl. Swain 2000). Das kann mit den Curricula von Vorschule oder Schule übereinstimmen, kann davon aber auch abweichen. In der Praxis kann das bedeuten, dass Entwicklungen in der Zweitsprache durch Fördermaßnahmen nicht nur gefördert, sondern auch behindert werden können.
Nun gibt es gegenwärtig in der Zweitspracherwerbsforschung einen Konsens über Erwerbabfolgen im syntaktischen Bereich. Dieser Konsens basiert auf der sog. Implikations-Theorie von Meisel/Clahsen/Pienemann 1981 und auf Untersuchungsergebnissen, die von diesen Forschern vorgelegt wurden (vgl. Clahsen/Meisel/Pienemann 1983; das ZISA-Projekt). Die Implikations-Theorie besagt, dass ein Phänomen c, das erworben wurde, voraussetzt, dass ein Phänomen b bereits erworben wurde und b setzt wiederum voraus, dass ein Phänomen a bereits zuvor erworben wurde. Mit anderen Worten: c impliziert b und b impliziert a. Diese Erwerbsabfolgen wurde später durch breiter angelegte Querschnittsuntersuchungen von Diehl u. a. 2000 teilweise bestätigt. Bei den letzten beiden Stufen hatten die Genfer Forscherinnen allerdings eine andere Reihenfolge festgestellt: Statt (4) Inversion und (5) Verbendstellung im Nebensatz zeigten ihre Daten die Abfolge (5) vor (4). Die Forscherinnen vermuten, dass diese andere Abfolge durch die Erstsprache Französisch bedingt sein könnte. Unklar ist gegenwärtig, welche Reihenfolge die „richtige“ ist. Unklar ist aber auch, ab wann die einzelnen Stufen als erreicht gelten können bzw. ab wann die Voraussetzungen für den Erwerb der nächsten Stufe gegeben sind.
Nun konnte anhand von Daten aus Einzelfallstudien 2007 gezeigt werden, dass die von Clahsen/Meisel/Pienemann postulierten Erwerbsstufen von Lernenden auch gleichzeitig durchlaufen werden können. Dies gilt z. B. für die beiden letzten Stufen Inversion und Verb-End (vgl. Apeltauer 2007). Wenn aber zwei Erwerbsstufen nicht nacheinander, sondern gleichzeitig oder gar – wie die Genfer Forscherinnen festgestellt haben – in anderer Reihenfolge durchlaufen werden können, sind Zweifel an der Gültigkeit der Implikations-Theorie angebracht. Möglicherweise sind die Erwerbsstufen von Clahsen/Meisle(Pienemann den großen Erhebungsintervallen (im ZISA-Projekt 6 – 8 Wochen) geschuldet. Im Rahmen des Kieler Modells wurden Daten im Abstand von 2 - 3 Wochen erhoben. Auf der so gewonnenen Datenbasis ließen sich fast doppelt so viele Erwerbsstufen erfassen (vgl. dazu auch Kuyumcu 2014). Die im Rahmen des ZISA-Projektes konzipierten syntaktischen Erwerbsstufen müssten also erweitert werden. Weil Erwerbsstufen aber sowohl gleichzeitig als auch in anderer Reihenfolge durchlaufen werden können, ist davon auszugehen, dass Erwerbsabfolgen keine Gesetzmäßigkeiten abbilden, sondern Entwicklungstendenzen, die variieren können. Sprachstandsanalyseverfahren, die sich auf die 5 Erwerbsstufen des ZISA-Projekts stützen, können daher nur erste und ungenaue Daten liefern, die zudem irreführend sein können, wenn die Entwicklung eines Lernenden von der postulierten Abfolge abweicht.
Diese Aussagen sollen hier einmal exemplarisch konkretisiert werden. Im ZISA-Projekt folgt auf die Stufe 2 (ADV-Voranstellung) die Stufe 3 (Distanzstellung), unter der folgende Konstruktionen zusammengefasst werden: Modalverb + Infinitiv, Perfektbildung und trennbare Verben in getrennter Form. Erst danach – so die Argumentation von Clahsen/Meisel/Pienemann – können die Stufen 4 (Inversion) und 5 (Verbendstellung im Nebensatz) durchlaufen werden. Aufgrund der uns vorliegenden Langzeitdaten, lassen sich die Phänomene der Stufe 3 bei einzelnen Lernenden zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten beobachten. Während die Konstruktion Modalverb + Infinitiv schon relativ früh in den Daten der Lernenden erscheinen, dauert es bei den meisten danach mehrere Monate, ehe erste Perfektkonstruktionen auftauchen. Trennbare Verben (in getrennter Form) werden i. d. R. erst viel später beherrscht. Die Stufe 3 (Distanzstellung) müsste also in folgender Weise differenziert werden:
Modalverb + Infinitiv ---> Perfekt ---> trennbare Verben [in getr. Form]
Ähnlich lassen sich bei der Inversion (Stufe 4) zwei unterschiedliche Phasen beobachten: Inversion (1) bei ja-nein-Fragen und Inversion (2) nach Adverbvoranstellung. Die Inversion (1) wird von vielen Kindern im Kieler Modell ca. ein halbes Jahr früher gebraucht als die Inversion (2). Ein erster Gebrauch von trennbaren Verben in getrennter Form fällt teilweise mit einem ersten Gebrauch der Inversionen (1) zusammen. Bei guten Lernern ließ sich fast zeitgleich auch ein erster Gebrauch von Nebensätzen (weil-Sätzen) beobachten. Und die Adverb-Voranstellung (Stufe 2) erscheint in den Daten einiger Kieler Kinder zeitgleich mit ersten Perfektformen der Stufe 3. M. a. W.: Von diesen Kindern scheinen die Stufen 2 und 3 ebenfalls parallel und nicht nacheinander erworben zu werden.
Was hat das alles mit Sprachstandesdiagnoseverfahren und mit Sprachförderung zu tun?
Alle gegenwärtig auf dem Markt befindlichen Sprachstandsdiagnoseverfahren stützen sich auf die syntaktischen Erwerbsabfolgen, die erstmals im ZISA-Projekt postuliert wurden. Wenn aber für das Durchlaufen dieser (hypothetischen) Stufen keine strikte Abfolge garantiert werden kann und neuere Datenanalysen zeigen, dass diese Erwerbsstufen ergänzt werden müssten, so bedeutet das, dass die auf dem Markt befindlichen Sprachstandsdiagnoseinstrumente weder genaue noch zuverlässig Daten liefern können. Erschwerend kommt hinzu, dass wir gegenwärtig nur wenig über Erwerbsstufen in anderen sprachlichen Bereichen wissen und dass von der syntaktischen Entwicklung nicht automatisch auf andere sprachliche Bereiche (z. B. Wortschatz oder Morphologie) geschlossen werden kann. M. a. W.: Über solche Zusammenhänge kann gegenwärtig nur spekuliert werden. Daraus Förderempfehlungen abzuleiten, ist problematisch (vgl. dagegen Heilmann 2012 und Grieshaber 2010 und 2014).
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Instrumente zur Beurteilung zweitsprachlicher Entwicklung gegenwärtig weder genaue noch zuverlässige Daten liefern. Die mit der Implikations-Theorie suggerierte strikte Abfolge der Erwerbsstufen mag ein interessantes Konstrukt sein. Die Implikations-Theorie ist aber mit vielen unserer empirischen Daten unvereinbar. Folglich müssten auch die Grundlagen der Sprachstandsdiagnose-instrumente überarbeitet werden. Es müssten neue Stufen berücksichtigt werden und die Annahme einer strikten Abfolge zugunsten von Variationsmöglichkeiten in den Abfolgen aufgeben werden.
Die von uns vorgetragene Kritik an der Implikations-Theorie und damit auch an der strikten Erwerbsabfolge (und an den darauf basierenden Sprachstandsdiagnoseverfahren) stützt sich auf Daten von Einzelfallstudien von Vorschulkindern aus dem Kieler Modell. Solche Langzeituntersuchungen ermöglichen bessere Einsichten in Entwicklungsprozesse als Querschnittsuntersuchungen oder Untersuchungen mit großen Erhebungsintervallen. Die Ergebnisse sind dennoch nur bedingt generalisierbar und sollten nicht stillschweigend auf ältere Lernende übertragen werden. Es bedarf dazu entsprechender Untersuchungen sowie ergänzender quantitativer Untersuchungen, mit denen die Ergebnisse abgesichert oder ggf. modifiziert werden können. Erst dann werden belastbare Aussagen vorliegen, die zur Grundlage von Planung und Durchführung von Fördermaßnahmen gemacht werden könnten.
Bis dahin sollten Fördermaßnahmen auf der Grundlage genauer Beobachtungen und Datenanalysen durchgeführt werden. Wichtig erscheint uns, dass dabei nicht nur – wie das gegenwärtig der Fall ist – die Vergangenheit von Lernenden betrachtet wird. Ebenso wichtig ist ein Erkunden der Zonen der nächsten sprachlichen Entwicklung und der Zone der intensiven sprachlichen Beschäftigung eines Lernenden (vgl. Apeltauer/Þenyýldýz 2009, Apeltauer 2013). Erst wenn auch diese Faktoren sowie die jeweilige Motivation und Leistungsbereitschaft eines Lernenden berücksichtigt werden, werden sich Fördermaßnahmen angemessen kalibrieren lassen und hoffentlich mehr Wirkung entfalten, als gegenwärtige Maßnahmen.
Literatur
Apeltauer, Ernst 2007: Grundlagen vorschulischer Sprachförderung; Flensburg (Sonderheft 4 der Flensburger Papiere zur Mehrsprachigkeit und Kulturenvielfalt im Unterricht; 135 S.)
Apeltauer, Ernst/ Þenyýldýz, Anastasia 2009: Von der Sprachstandsdiagnose zur gezielten Sprachförderung. In: SchulVerwaltung, Zeitschrift für Schulleitung und Schulaufsicht 4, 2009, 24 – 26.
Apeltauer, Ernst 2010: Lernerselbststeuerung im Vor- und Grundschulbereich. In: Rost-Roth, Martina Hg.: DaZ-Spracherwerb und Sprachförderung Deutsch als Zweitsprache; Freiburg: Fillibach, 99 – 123,
Apeltauer, Ernst 2013: Perspektiven sprachlicher Frühförderung. In: Decker-Ernst, Yvonne/Oomen-Welke, Ingelore Hrsg.: Deutsch als Zweitsprache: Beiträge zur durchgängigen Sprachbildung; Stuttgart: Fillibach/Klett, 119 – 139.
Clahsen, Harald/Meisel, Jürgen/Pienemann, Manfred 1983: Deutsch als Zweitsprache; Der Spracherwerb ausländischer Arbeiter; Tübingen: Narr
Diehl, Erika/Christen, Helen/Leuenberger, Sandra/Pelvat, Isabelle/Studer, Thérèse 2000 Hrsg: Grammatikunterricht: Alles für der Katz? Untersuchungen zum Zweitspracherwerb Deutsch; Tübingen: Niemeyer
Grieshaber, Wilhelm 2010: Spracherwerbsprozesse in Erst- und Zweitsprache; Duisburg: Universitätsverlag
Heilmann, Beatrix 2012: Diagnostik & Förderung leicht gemacht; Stuttgart: Klett
Kuyumcu, Reyhan 2014: Sprach(en)entwicklung und Sprachreflexion, Drei Fallstudien zu zweisprachig aufwachsenden Vorschulkindern mit Erstsprache Türkisch und Zweitsprache Deutsch; Tübingen: Stauffenburg
Meisel, Jürgen/ Clahsen, Harald/Pienemann, Manfred 1981: On determining developmental stages in natural second language acquisition. In: Studies in Second Language Acquisition 3, 109 – 135.
Swain, Merill 2000: The Output-Hypothesis and beyond: Mediating acquisition through collaborative dialogue. In: Lantolf, James, P. ed.: Sociocultural Theory and Second Language Learning; Oxford: University Press, 97 – 114.
Wygotski, Lew, S. 1969: Denken und Sprechen; Frankfurt: S. Fischer
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