In der Kindertagestätte Mosaik in Kiel-Gaarden ist in den letzten Jahren ein sehr erfolgreiches Modell zur frühen Förderung von Deutsch und Türkisch bei Kindern mit Migrationshintergrund entwickelt worden. Gearbeitet wird nach der Immersionsmethode (IM) im Rahmen des Literalitätsansatzes. In dieser Kita gelingt es tatsächlich, die Kinder in ihrem Deutsch bis zum Ende ihrer Kitazeit auf einen Stand zu bringen, dass es ihnen in der anschließenden Grundschule gelingt, ihr Deutsch so weit weiterzuentwickeln, dass sie in vergleichbarem Ausmaß wie die deutsch-sprachigen Kinder für die weiterführenden Schulen unter Einschluss von Realschule und Gymnasium empfohlen werden können, ohne dass die Entwicklung ihrer Herkunftssprache beeinträchtigt wird. Wie funktioniert das Kitamodell? Wie verlässlich sind die Ergebnisse? Kann der Ansatz guten Gewissens weiter empfohlen werden?
Der Missstand
Wie in vielen Industriestaaten westlicher Prägung wird auch in Deutschland noch immer beklagt, dass Kinder mit Migrationshintergrund trotz aller Fördermaßen nach wie vor überproportional häufig Probleme in der Schule haben. Diesen Missstand kennt man seit den 1960er Jahren, als mit den – damals Gastarbeiter genannten – Migranten auch die ersten schulpflichtigen Kinder nicht-deutscher Muttersprache nach Deutschland kamen. Dieser beschämende Trend hat sich über die Jahre hin wenig verändert, so dass der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler in einer seiner Weihnachtsansprachen völlig zu Recht von einer „Schande“ sprach. Die Fakten sind wieder und wieder in vielen Studien dokumentiert worden. Leider bestätigen selbst die jüngsten PISA-Berichte immer noch, dass trotz aller präventiven Fördermaßnahmen Kinder mit Migrationshintergrund in Deutschland merklich schlechtere Berufschancen haben als Kinder aus anderen sozialen Verhältnissen, weil erstere überproportinal häufig keinen Schulabschluss schaffen. Paradoxer Weise sind weder diese Fakten noch die Gründe für diese Missstände kontrovers: Als entscheidend gilt, dass die Kinder mit Migrationshintergrund nicht genug Deutsch können, und dass die Gründe für dieses Manko nicht biologischer Art in dem Sinne sind, dass – biologische - Defizite vorliegen. Es liegt an der Art, wie diese Kinder in Deutschland beschult werden.
Dieser Beitrag soll auf das enorme Potential aufmerksam gemachen, das das Kieler Modell für die Vermittlung von Deutsch und Türkisch für türkisch-sprachige Kinder bietet, und dazu anregen, dieses Modell auf breiterer Grundlage auch in anderen Städten zu erproben, damit sich möglichst viele Eltern, Lehrkräfte sowie mit Schule befasste Politiker und Lobbyisten mit eigenen Augen und Ohren ein Bild von der Leistungsfähigkeit und Funktionsweise dieses Ansatzes machen können. Es steht zu hoffen, dass dies sie in die Lage versetzt, nicht nur die Benachteilung der Kinder mit Migrationshintergrund anzuprangern, sondern selbst aufzuzeigen und einzufordern, wie das Problem gelöst werden kann.
Kita Mosaik
Die Kita Mosaik liegt in Kiel-Gaarden, einem Stadtteil von Kiel mit einem sehr hohen Migrantenanteil, insbesondere mit türkischem Hintergrund. Ursprünglich war es eine normale Kita. Anfang der 2000er Jahre besuchten aber kaum noch deutsch-sprachige Kinder die Einrichtung. Deshalb entschloß sich die Stadt Kiel, sie neu auszurichten, nämlich auf die Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund. Man entschied sich für die Immersionsmethode in Verbindung mit dem Literalitätsansatz. Der Grundgedanke des Literalitätsansatzes ist, dass es für den späteren Erfolg in der Schule von entscheidender Bedeutung ist, dass die Kinder von Anfang an eine positive Einstellung zu Bildung und Schule mitbringen und über ein gewisses Vorwissen über Schule und worum es in der Schule geht verfügen. Der Kern dieses Vorwissens betrifft das Wissen um Schriftlichkeit, etwa wozu Bücher da sind; dass sich in ihnen Geschichten festhalten lassen; warum es so nützlich, ja unerlässlich ist, lesen und schreiben zu können; und vieles mehr. In der Kita wird mit den Kindern Deutsch und Türkisch gesprochen; man liest Geschichten nicht nur auf Deutsch vor; selbst einige – türkische - Väter kommen regelmäßig in die Kita und lesen den Kindern auf Türkisch vor. Der Erfolg war so beeindruckend, dass der Ansatz schon 2006 auf weitere Kieler Kitas mit hohem Migrantenanteil ausgeweitet wurde. Heute kommen in Kiel über 1000 Kita-Kinder in den Genuß dieses Literalitätsansatzes.
Nach der Kita besuchen die Mosaik-Kinder unterschiedliche Grundschulen und kommen dort in – auf Deutsch – geführte Regelklassen. Sie erhalten keinen auf ihre speziellen Bedürfnisse ausgerichteten Grundschulunterricht, sondern, wenn überhaupt, lediglich die heute übliche Zusatzförderung nach DAZ. Zwar gibt es bislang weder für Deutsch noch Türkisch eine detaillierte Dokumentation der sprachlichen Entwicklung der Mosaik-Kinder in der Grundschule, wohl aber liefern die Empfehlungen für die weiterführenden Schulen erste, allerdings sehr deutliche Hinweise. Sie stammen aus einer informellen Umfrage von Reyhan Kuyumcu unter den 9 Kindern des ersten Mosaik-Jahrgangs, die sie im Jahre 2011 im Kieler Raum noch aufspüren konnte. Von diesen 9 Kindern war eines für die Hauptschule empfohlen worden, 4 für die Realschule und 4 fürs Gymnasium. Inzwischen ist eines der 4 für die Realschule emphohlenen Kinder auf Anraten seiner Realschullehrer auf ein Gymnasium gewechselt. Offensichtlich haben die Mosaik-Kinder während ihrer Zeit in der Kita so viel Deutsch gelernt, dass sie es in der Grundschule allein durch ihre Teilnahme am – für deutsche Kinder ausgelegten – Regelunterricht in dem Maße weiterentwickeln konnten, dass ihre Empfehlungen für die weiterführende Schule der Normalverteilung für deutsche Viertklässler entsprechen und nicht ein einziges von ihnen dort landete, wohin sonst überproportional viele von ihnen abgeschoben werden, nämlich auf eine Förder-/Sonderschule.
Kann man das Kieler Modell angesichts so weniger Kinder wirklich empfehlen?
Man wird das Kieler Modell kaum auf der Basis von nur 9 Kindern zur Nachahmung empfehlen können, es sei denn, es gibt Möglichkeiten diese schmale quantitative Basis zu verbreitern. Das ist in der Tat möglich, allerdings nur durch einen Blick auf andere Länder. Besonders lohnend sind die USA, Kanada und Skandinavien. In Nordamerika sind solche Unterichtsformen als Two-Way Immersion oder Dual Immersion bekannt. Erstmals erprobt wurden sie in San Diego Anfang der 1970er Jahre; später schlossen sich viele Schulen nicht nur in Kalifornien an. Die Ergebnisse decken sich. Bezieht man daher die Erfahrungen aus diesen Ländern mit ein, kann man davon ausgehen, dass die 9 Kinder aus Mosaik sich so wie Tausende von Kindern weltweit verhalten.
Wer dergleichen auf Europa/Deutschland übertragen bzw. hier erproben will, muss bestimmte Dinge beachten, insbesondere die Sprache der Kinder; die Auswirkungen der kulturellen und sprachlichen Besonderheiten in der Familie des Kindes bzw. der Herkunftskultur; und wie IM funktioniert.
Zur Rolle der dominanten Sprache der Kinder
Die geradezu überragende Bedeutung der dominanten Sprache eines Kinder erwächst aus ihrer Rolle im Sozialisationsprozess, insbesondere für die kognitive Entwicklung und für den Erfolg in der Schule.
Kinder lernen Sprachen nicht als Selbstzweck, sondern sie sind ihnen zugleich Mittel für ihre Sozialisation und das Produkt dieses Prozesses. Seine Sprache ist für das Kind ein entscheidendes Vehikel, mit dem es sich seine Welt erschließt und sein Weltverständnis, seine Konzepte und seine sozio-kulturelle Einbindung sichert. Wichtig ist, sich zweierlei klar zu machen: Zum einen stoßen Kinder mit zunehmendem Alter mehr und mehr auf Sachverhalte und Gedankliches, die ohne Sprache kaum oder gar nicht lernbar sind. Die Welt der Kita, der Vorschule und der Schule stellen Kinder vor neue Herausforderungen, denen sie z.B. in der Familie gar nicht ausgesetzt werden. Zum anderen kommt es darauf an, daß die Sozialisation, insbesondere die kognitive Entwicklung der Kinder nicht dadurch beeinträchtigt wird, daß die Entwicklung ihrer stärkeren Sprache eingeschränkt oder gar unterbunden wird. Man bedenke, dass die Sozialisation vor allem über die stärkere Sprache des Kindes vorangetrieben wird, weil über sie am meisten kommuniziert wird. Fällt sie aus, kann der Sozialisationsprozeß ins Stocken geraten. Bei monolingualen Kindern taucht das Problem nicht auf; bei mehrsprachigen dann, wenn ihre dominante Sprache nicht die Arbeitssprache der Kita bzw. die Unterrichtssprache in der Schule ist.
Kinder, deren Beherrschung der Schulsprache nicht altersgemäß entwickelt ist, fallen daher fast zwangsläufig im direkten Vergleich mit denen zurück, die in ihrer dominanten Sprache unterrichtet werden. Das wird besonders in gemischtsprachigen Klassen deutlich, wenn etwa eine deutsch-türkische Klasse nur auf Deutsch unterrichtet wird und der Unterricht dabei ausschließlich an den für monolingualen deutschsprachigen Unterricht geltenden Normen ausgerichtet wird, obwohl das Deutsch der türkischen Kinder nicht dem altersgemäßen Stand ihrer deutschsprachigen Klassenkameraden entspricht.
Es hat sich in derartigen Fällen als überaus hilfreich erwiesen, wenn die dominante Sprache der Kinder auch dann zunächst weiter gefördert wird, wenn sie nicht die Schulsprache ist. Paradoxerweise ist nämlich der Lernerfolg für eine schwächere Sprache bzw. eine Zweitsprache in bestimmten Situationen längerfristig größer, wenn zunächst die stärkere Sprache weiter gefördert wird, selbst wenn es die Muttersprache ist. Auf diese Weise kann sich die Sozialisation einschließlich der kognitiven Entwicklung der Kinder altersgemäß vollziehen und liefert so reichhaltigere Grundlagen und Voraussetzungen für den Erwerb einer weiteren Sprache. Das wiederum erhöht den Lernerfolg und das Lerntempo für die schwächere bzw. neue Sprache und führt insgesamt zu beträchtlich besseren Leistungen auch in den anderen Fächern.
Der Literalitätsansatz: Tür zu Schule und Bildung
In diesem Zusammenhang macht der Literalitätsansatz nicht nur viel Sinn, sondern in überwiegend oralen Kulturen bzw. bildungsfernen Familien erscheint er geradezu unerlässlich. Wie sehr das der Fall ist, ist schon seit Mitte der 1970er Jahre aus einer sehr sorgfältig gemachten Studie aus Skandinavien bekannt.
Zwischen Schweden und Finnland hat sich über viele Jahre hin eine Tradition entwickelt, der zu Folge finnische Arbeiterfamilien nach Schweden übersiedeln, um dort ihren Lebensunterhalt zu sichern. Ihre Kinder werden in die – schwedisch-sprachigen - Schulen geschickt und gemeinsam mit den Schweden auf Schwedisch unterrichtet, ganz ähnlich wie man seit den 1960er Jahren in Deutschland mit Migrantenkindern verfuhr.
Diese finnischen Kinder galten als schwer beschulbar, weil ein unverhältnismäßig großer Teil von ihnen weder Schwedisch gut lernte noch die Inhalte der Fächer. Der Grund waren nicht unzureichende Lernfähigkeiten im biologischen Sinne, sondern unzureichende kognitive Voraussetzungen für Schule und worum es in der Schule überhaupt geht. Das ergab sich aus der sehr sorgfältig geplanten Unesco-Studie von 1976, in die u.a. kinderreiche Familien einbezogen waren. Es zeigte sich, daß die finnischen Kinder, die in Finnland bereits ein Jahr oder länger die Schule besucht hatten, nicht die Problemkinder waren, sondern ihre jüngeren Geschwister ohne vorherige Schulerfahrung. Man erkennt: Wer weiß, worum es in der Schule geht und was auf einen zukommt, findet sich in der neuen Umgebung selbst dann schneller zurecht, wenn er die neue Sprache noch gar nicht beherrscht. Und umgekehrt: Der Erwerb der neuen Sprache wird enorm erleichtert und beschleunigt, wenn der Lerner durchschaut, worum es inhaltlich geht. Ist das nicht der Fall, gerät der Betroffene sprachlich und inhaltlich derart ins Hintertreffen, daß die Rückstände in der Regel während der ganzen Schulzeit nicht aufgeholt werden. Deshalb gilt heute, je früher die Grundlagen für eine positive Einstellung und das Wissen über Schule gelegt werden, z.B. in der Familie, spätestens aber in der Kita, desto besser der spätere Schulerfolg.
Was ist IM?
IM ist eine Methode, zweite und dritte Sprachen lernen zu lassen, indem die neue Sprache nicht wie bei herkömmlichen Arten von Fremdsprachenunterricht als Lehrgegenstand behandelt wird, sondern sie ist von vornherein die Arbeits- bzw. Unterrichtssprache, in der der
Unterricht auch in den anderen Fächern durchgeführt wird.
IM gilt als die weltweit mit Abstand erfolgreichste Methode zur Vermittlung von Sprachen. Wissenschaftlich ist u.a. erwiesen, dass die neue Sprache bei IM weit erfolgreicher als bei den herkömmlichen lehrgangsorientiertem Unterricht gelernt wird; die Muttersprache nicht leidet , sondern sogar profitiert; die Inhalte der immersiv unterrichteten Fächer nicht defizitär bleiben, sondern sich oft noch besser als im Regelunterricht entwickeln; und dass der frühe Erwerb einer weiteren Sprache die kognitive Entwicklung der Kinder nicht gefährdet, sondern längerfristig fördert.
Lobby-Arbeit tut Not
Die entscheidende Information darüber, wann und weshalb bei Kindern mit Migrationshintergrund schulischer Misserfolg droht, ist seit 1976, als die Unesco-Studie publiziert wurde, verfügbar. Zur Kennntniss genommen worden ist sie jedoch so gut wie gar nicht, wenn man bedenkt, dass sie in einschlägigen deutschen Publikationen oder bildungspolitischen Überlegungen keine Rolle gespielt hat. Beispielsweise sind die üblichen Förderprogramme für Kinder mit sprachlichen Defiziten nicht nach diesen Gesichtspunkten konzipiert worden. Auch haben Konzepte wie IM, der Literalitätsansatz, die Überlegungen zur Rolle der dominanten Sprache bei mehrsprachigen Kindern oder die Rolle von Kitas im Zusammenhang mit der Frühvermittlung von Sprachen in den Planungen von Regierungsseite bislang keine von profunder Sachkunde getragene Rolle gespielt. Folglich gibt es keinen Anlass anzunehmen, dass sich diese Situation bald ändern könnte. Deshalb stehen nicht nur die Eltern in der Pflicht, ihre Stimme zu erheben und dafür zu sorgen, dass die junge Generation nach modernen leistungsstarken Methoden unterrichtet und nicht mit überholten abgespeist wird. Das muss natürlich die Kinder mit Migrationshintergrund einschließen. Für Aussenstehende ist ohnehin nicht nachvollziehbar, weshalb die diversen türkischen Interessensvertretungen in Deutschland nicht schon längst das zu tun versucht haben, was zwar die vornehmste Pflicht des Staates im Rahmen seiner Verantwortung für Bildung ist, nämlich die leistungsstärksten Methoden aufzuspüren und dafür zu sorgen, dass möglichst alle Kinder in ihren Genuss kommen. Was spräche dagegen, das beispielsweise im Rahmen von Privatschulen oder Patenschaften zu tun, wenn die bildlungspolitischen Entscheidunggsträger und die öffentlichen Schulen sich der Problematik nicht in befriedigender Weise annehmen?
Henning Wode ist Prof. emer. am Englischen Seminar der Chritian-Albrechts-Universität zu Kiel. Mit dem obigen Thema beschäftigt er sich ausführlicher in seinem jüngsten Buch
Wode, H. 2009. Frühes Fremdsprachenlernen in bilingualen Kindergärten und Grundschulen. Braunschweig: Westermann
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